Fremde Küsse und Lyrik mit Botschaft

Italiens Fußballer freuten sich kürzlich über ein Silbergefäß, nicht minder glücklich scheint Leonie Batke mit ihrem Preis als beste Slammerin des Abends zu sein. Die Konkurrenz spendet wohlverdienten Applaus. Foto: Theuner

Von Sebastian Theuner

Oberursel. Nachts ist alles schöner. Der Himmel, statt in „dreckigem Grau“ nun im „leuchtenden Zwielicht aus Schwarz und Blau“; die Musik, im Hellen nervend, auf einmal erträglich, findet Leonie Batke. Ganz ungehemmt sein, die Nacht macht es möglich; und von ihrer Schönheit gibt die Nacht auch diesem Typen ab, der sich vom anderen Ende der Tanzfläche nähert, dessen Witze nicht mal besonders witzig sind, dessen Stimme beim Singen schief klingt, und dessen Kuss dennoch zwei Lippen erreicht. Weil nachts eben alles schöner ist. Zumindest beim Poetry Slam im Rahmen des Orscheler Sommers.

Und obwohl Leonie Batke lieber für sich tanzen wollte, so erzählt sie an dem lauen Sommerabend auf dem Schulhof der Grundschule Mitte, lässt die kraftvolle Schönheit der Nacht ihren Plan in die Dunkelheit hinausgleiten; begibt sie sich in einen „Moment des unvernünftigen Zusammenseins: Weil man ohne Licht das Schlechte nicht mehr erkennt; ich vergesse, dass das wahre Leben im Hellen stattfindet.“

Hatte die Mainzerin in ihrer Anmoderation noch die Ausgehmöglichkeiten Oberursels belächelt und war Gefahr gelaufen, ihre Sympathiewerte zu verspielen („Jetzt mal Realtalk: Ihr fahrt zum Feiern doch auch alle nach Frankfurt“), holt sie das Publikum mit ihrer eingänglich-kritischen Betrachtung der Nacht zurück auf ihre Seite. Löst derartige Begeisterung aus, dass der tosende Applaus ihr den Sieg beim vierten Poetry Slam im Rahmen des Orscheler Sommers beschert – und einen trockenen Riesling, von Moderator Finn Holitzka zum „symbolischen Pokal“ erklärt, obendrein.

Batkes Auftritt ist der Schlusspunkt eines Abends, der die Zuhörer nicht nur in die verklärte Wirklichkeit der Dunkelheit entführt. In den Zirkus geht es bei Lara Ermer – doch waren das bei ihrem letzten Besuch wirklich Frauen mit Pferdeschwänzen, die dort anstatt Zebras im Kreis umherliefen? Dabei wollte Ermer doch nur den Verzicht auf zu Kunststückchen genötigte Tiere unterstützen. Zehn Minuten Zeit, der Text, ob nun gereimte Lyrik oder satirische Prosa, selbstgeschrieben, keine Bühnenutensilien – mehr Regeln gibt es nicht beim Poetry Slam.

Warum Sexismus noch immer gesellschaftsfähig sei, fragt Lara Ermer in der Feststellung, dass stereotype Geschlechterrollen in manchen Köpfen Wurzeln geschlagen haben: „Ich jagen, du sammeln – wenn du es schon so machen willst wie die Neandertaler, dann sei wenigstens konsequent und stirb aus“, schleudert sie in ihrem Text den ewig Gestrigen entgegen.

Nebenan serviert die Lokale Oberurseler Klimainitiative (LOK) vegetarische Paella und vegane Aioli; das Bühnenbüfett ist witzig, tiefgründig, derb und politisch. Oft alles gleichzeitig. Samuel Kramer, hessischer Poetry-Slam-Meister von 2016, rezitiert in formvollendeter Lyrik, die an diesem Abend ihresgleichen sucht, über das Artensterben; spricht von Flugvögeln, zerfetzt in Flugzeugturbinen: Der „komische Vogel“ aber sei der Mensch, „und er sitzt auf einem ganz dünnen Ast“.

Als „Digital-Dino“ bezeichnet sich Jakob Schwerdtfeger. Erst stolz, als er kürzlich im Supermarkt kontaktlos mit Kreditkarte bezahlt, fällt sein Selbstbild eines digitalen Nomaden rasch in sich zusammen, als der nächste Kunde das Geld per Handy überweist. Da hat es der Sieger des allerersten Poetry Slams beim Orscheler Sommer doch lieber real. Aber wie die eigene Kunst an Frau und Mann bringen, wo Bordelle in der bayerischen Corona-Öffnungsstrategie noch vor Museen dran waren?

Ins Finale wählen die fünf Jury-Gesandten des Publikums die Poesie aus weiblicher Feder. Für ihren Text über die vermeintlichen Ideale der Körperbeharrung (untenrum mittig noch etwas stehen lassen? Sieht aus wie das Hitlerbärtchen unter den Intimfrisuren!) erntet Lara Ermer lautstarken Applaus; noch minimal kräftiger aber wird für ihre Gegnerin geklatscht. Und so überreicht Finn Holitzka, der unterhaltsam durch das gut zweistündige Programm führt und eigene Kurzgedichte zum Besten gibt, den Siegerinnentropfen an Leonie Batke. Ob die Flasche den Abend überlebt hat? Geht es nach der Gewinnerin, schmeckt wohl auch der Wein zu später Stunde am besten.

Weitere Artikelbilder



X