Großbritannien nach dem Brexit: Es wird immer schlimmer

Nicholas Jefcoat (l.) erzählt von der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation in Großbritannien. Der Abend wird von Margit Schlesinger-Stoll (r.) moderiert. Foto: gt

Oberursel (gt). In der neuesten Veranstaltung der Reihe „Hallo Nachbar“ des Vereins zur Förderung der Oberurseler Städtepartnerschaften (VFOS) und der Volkshochschule (VHS) Hochtaunus drehte sich alles um das Thema Großbritannien. Im Vordergrund standen die aktuelle gesellschaftliche Situation und die innenpolitischen Herausforderungen vier Jahre nach dem Brexit und ein Jahr nach der Krönung von König Charles III.

Als Gastredner war der Vorsitzende der Deutsch-Britischen Gesellschaft Rhein-Main, Nicholas Jefcoat, eingeladen. Der gebürtige Brite stammt aus Wolverhampton in der Nähe von Frankfurts Partnerstadt Birmingham. Der überzeugte „Remainer“ wohnt seit Jahrzehnten im Rhein-Main-Gebiet und hat nach dem Brexit die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Moderiert wurde der Abend von der Journalistin Margit Schlesinger-Stoll.

Die aktuelle politische Situation in Großbritannien beschreibt Jefcoat als „chaotisch“. Im Land stehen eine Reihe von Wahlen an, beginnend im Mai mit zahlreichen Kommunalwahlen, bei denen auch die Bürgermeister der acht regionalen „Combined Authorities“ gewählt werden. Die wichtigste Wahl wird jedoch die „General Election“, die Parlamentswahl sein, die voraussichtlich im Oktober oder November stattfinden wird. „Das Ergebnis ist bekannt“, so Jefcoats Prognose. Nach 14 Jahren Regierungszeit der Konservativen Partei, der „Tories“, sei die Partei über ihre derzeitige Führung gespalten. „Die eine Hälfte will Premierminister Rishi Sunak loswerden, die andere meint, es sei nicht die Zeit für eine neue Führungsperson“, erklärte er.

Jefcoat ist überzeugt, dass die Labour Party die nächste Parlamentswahl gewinnen wird, und zeigte sich beeindruckt von deren Leiter Sir Keir Starmer, den er besser findet als seinen Vorgänger Jeremy Corbyn. Aber es gibt auch Druck von anderen Parteien, wie Jefcoat meint. Etwa von den Liberalen, aber auch von Brexit-Befürworter Nigel Farage mit seiner neuen Partei „Reform UK“. Vor allem sie werde den „Tories“ viele Stimmen abnehmen, schätzt Jefcoat.

Der britischen Wirtschaft gehe es „sehr schlecht“. Es gebe ein riesiges Handelsdefizit, eine Inflation von rund fünf Prozent und die höchste Steuerlast seit Jahrzehnten – was für die „Tories“ sehr untypisch ist. Die Briten sprechen von der „Cost of Living Crisis“ („Lebensunterhaltungskostenkrise“). Jefcoat ist der Meinung, dass der Brexit eine große Rolle bei den aktuellen Problemen spielt, aber die Brexit-Befürworter machten alles andere dafür verantwortlich einschließlich der Corona-Pandemie. Für große Konzerne mache der Brexit vielleicht weniger Probleme, aber kleine und mittelständische Unternehmen litten unter der Zunahme von Bürokratie und Kontrollen, wenn sie Waren exportieren wollen. Die Situation werde sich in diesem Jahr noch zuspitzen, wenn die Importkontrollen verschärft werden. „Es wird immer schlimmer“, so Jefcoat.

Auch wenn viele Briten inzwischen ihre Meinung geändert haben, ist der 70-Jährige davon überzeugt, dass er den Wiedereintritt in die EU nicht mehr erleben wird. Während der Brexit früher ein heikles Thema gewesen sei, das Gesellschaft gespaltet habe, werde heute kaum noch darüber gesprochen.

Schlesinger-Stoll wollte mehr Konkretes über die Schwierigkeiten wissen, und so erzählte Nicholas Jefcoat etwa von Orchestern, die für jeden Besuch eine Liste ihrer Instrumente für den Zoll anfertigen müssen, den sogenannten Carnet. Kooperationen in der Filmindustrie zwischen Großbritannien und Deutschland seien praktisch nicht mehr möglich. Und seitdem man für die Einreise nach Großbritannien einen vollwertigen Reisepaß benötigt, sei es schwieriger geworden, Besuche für Schülergruppen zu organisieren.

Und während es für EU-Bürger schwieriger geworden sei, in das Land einzureisen, steige die Immigration aus Nicht-EU-Ländern. Jefcoat erzählte von den Plänen der britischen Regierung, Asylbewerber, die es nach Großbritannien geschafft haben, ins Flugzeug nach Ruanda zu setzen.

Schließlich wurde ein Blick auf die königliche Familie geworfen und darauf, wie König Charles III. zum richtigen Zeitpunkt auf den Thron gekommen sei. Nicht nur, dass er seine Camilla als Königin krönen durfte, er setzt sich seit vielen Jahrzehnten für ökologische Themen ein und wird vielleicht in diesem Bereich Trends setzen können, auch wenn er eigentlich keine politische Macht hat.

Es folgten Fragen vom Publikum zum Freihandelsabkommen EFTA, zum Brexit Bus, zur Ukrainepolitik in Großbritannien und zum nationalen Gesundheitssystem. Jefcoat wurde erneut kritisch gegenüber Premierminister Rishi Sunak, den er als „viel zu reich“ bezeichnete. Er habe die Eliteschule Eton besucht und früher als Investmentbanker gearbeitet. dadurch habe er wenig gemeinsam mit den normalen Bürgern.

Zum Schluss wollte Margit Schlesinger-Stoll wissen, wie man Städtepartnerschaften stärken und erneuern soll. „Man braucht kreative Personen“, antwortete Nicholas Jefcoat. Das Problem, jüngere Personen hierfür zu gewinnen, ist wohl nicht nur in Oberursel eine aktuelle Herausforderung.



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