Oberursel (nl). Sie betritt die Bühne der großen Stadthalle beinahe unbemerkt. Und so ganz in Schwarz gekleidet, nimmt man sie zunächst auch vor dem dunklen Hintergrund des Podiums, auf dem sie gleich ihren Auftritt hat, erst einmal kaum wahr. Zurückhaltend blickt sie ins Publikum. Es ist ihr Abend zwar, aber es ist das Buch ihrer Großmutter, die sie selbst nie kennenlernte, aus dem sie heute im Rahmen der Oberurseler Literaturtage lesen wird.
Patricia Littens Familiengeschichte ist bewegt, tragisch und geprägt von der Verfolgung und Einkerkerung ihres Onkels Hans Litten. Als Jurist war er einer der ersten, der Hitler noch zu Beginn der 30er-Jahre, lange vor dem Krieg und den Rassengesetzen, verhörte und der aus seiner Kritik am Diktator keinen Hehl machte. Das büßte Hans Litten schwer. Am Ende mit dem Tod. Er wurde gefoltert in der jahrelangen Haft und seines bürgerlichen Lebens beraubt. Was ihm blieb, waren Schmerzen an den Zähnen, den Augen und Beinen. Kopfschmerzen, die nie mehr vergingen.
„In der Nacht des Reichstagsbrandes wurde mein Sohn verhaftet“, wird später die Mutter von Hans Litten ihr Buch beginnen und mit ihrem Text genau dokumentieren, was Hans Litten wie auch seiner ganzen Familie angetan wurde. Den Schmerz von der Seele schreiben, das gelingt nicht. Aber aufschreiben für die Nachwelt, was an Unglaublichem alles geschah. Und das tat Irmgard Litten. Die Frau, die drei Söhne hatte, wovon zwei sehr der Kunst und dem Theater zugetan waren und Hans, der Älteste, vom Vater in eine Juristenkarriere gepresst wurde. Er fügte sich. Doch er blieb ein Anwalt der kleinen Leute und verwandte seine Leidenschaft, seine komplette Kraft auf den Sinn für die Gerechtigkeit. Ohne Selbstschutz, ohne sich zu verbiegen. In der Serie „Babylon Berlin“ ist einer der hoffnungsvollen Figuren nach ihm benannt. Deutschland hatte nicht viele Helden. Doch Hans Litten war einer.
Die Mutter tat alles dafür, um in jahrelangen Abständen ihren Sohn immer wieder besuchen zu können. Die letzte Begegnung fand in Dachau statt. Am 9. Februar 1938 besuchte Irmgard Litten ihren Sohn. Da war er bereits tot. Verstorben an den Folgen seiner Haft. Patricia Litten, das Kind des jüngeren Bruders von Hans Litten wuchs in der Schweiz auf. Welche Familiengeschichte die Littens zu tragen hatte, erfuhr die Schauspielerin, Nichte von Hans Litten, erst peu à peu.
Nachdem die Lesung zu Ende war, stellte das hochbewegte Publikum viele Fragen. Wer Lesungen regelmäßig besucht, weiß, dass in den seltensten Fällen im Anschluss eine rege Unterhaltung stattfindet. Doch an diesem Abend war alles anders. Freimütig, schmucklos und gänzlich ohne Pathos erzählt Patrica Litten, wie sie auf dem Schreibtisch ihres Vaters als kleines Mädchen zwei Bilder aufgestellt sieht. Sie fragt nach, wer das sei. Und sie erfährt: Es sind Fotos ihrer verstorbenen Großmutter Irmgard und des Bruders ihres Vaters. Mit beherrschter, klarer Stimme beschreibt Patricia Litten, was sie empfand, als sie davon erfuhr. Die knappe und kindgerechte Erklärung sollte ihr noch öfter in den Sinn kommen. Denn Patricia Litten ahnt ab da, die Familie umgibt ein Geheimnis. Es gibt etwas, über das in dieser Familie geschwiegen wird. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters, da ist Patricia Litten 17, da entdeckt sie im Bücherregal ihrer Eltern das Buch ihrer Großmutter und beginnt sich dem Thema zu widmen. In der Schweiz groß geworden, bekam sie zwar nichts mit vom Nachkriegsdeutschland. Aber dass sie keine echte Schweizerin war und insofern auch nicht ganz dazugehörte, das bekam sie früh zu spüren. Es musste noch einiges passieren, bevor die Schauspielerin sich entschloss, sich des Romans ihrer Großmutter anzunehmen und dafür zu sorgen, dass ihre Familiengeschichte nicht vergessen wird.
Ein außergewöhnlich dichter, emotional berührender Abend, der in leisen Tönen die großen Gefühle wie Mut, Aufrichtigkeit und Zivilcourage auf den Plan rief. Werte, die auch in unserer heutigen Gesellschaft von NSU-Prozessen und kaltblütigen Morden in Hanau nicht hoch genug gehalten und geachtet werden können.
!Irmgard Litten, Eine Mutter kämpft gegen Hitler, ars vivendi Verlag, ISBN: 978-3-7472-0069-8, 18 Euro.