Schlemmen und tanzen, wo einst Reisende aufbrachen

Die Postkarte aus dem Jahr 1902 zeigt nicht nur den Bahnhof ein Jahr nach seiner Eröffnung, sondern vermittelt auch einen Eindruck von dem schmucken Städtchen vor dem Taunus-Höhenzug zu jener Zeit. Ungehindert von der heutigen Bebauung ist der Blick von Süden noch frei bis in die Altstadt hinein. Foto: Stadtarchiv

Von Steffen Haffner

Oberursel. Ihr Bahnhof ist ein Fixpunkt für die Oberurseler und das Tor zur Außenwelt. Von hier geht es vor allem für viele Pendler mit der S5 zum Frankfurter Hauptbahnhof oder nach Bad Homburg und Friedrichsdorf. Die „Taunusbahn“ (RB 15) der Hessischen Landesbahn mit ihren farbigen Triebwagen bringt die Fahrgäste ebenfalls zum Hauptbahnhof,aber auch in entlegenere Orte wie Grävenwiesbach oder Brandoberndorf. Zusammen mit der U3 und zwölf Buslinien, die vor dem Bahnhof halten, steigen hier jeden Tag schätzungsweise zwischen 8000 und 9000 Passagiere ein oder aus.

Der seit 1988 denkmalgeschützte Bahnhof sollte nach Jahren des Verfalls für den Hessentag im Jahr 2011 herausgeputzt werden. Doch wegen sich verzögernder Verhandlungen mit der Deutschen Bahn AG konnte der 9,8 Millionen Euro teure Umbau erst im Folgejahr abgeschlossen werden. Da war es ein dickes Trostpflaster, dass das Ensemble zum „Kleinstadtbahnhof des Jahres 2012“ gekürt wurde. Die Sewo, die Stadtentwicklungs- und Wirtschaftsförderungsgesellschaft Oberursel, hatte im Jahr 2008 den Bahnhof und brach liegendes Betriebsgelände für gut eine Million Euro der Bahn abgekauft.

Die Funktionsräume der Deutschen Bahn werden seit Jahren wirtschaftlich genutzt. Der Ticketservice wird im Anbau von freundlichen Angestellten betrieben, die nebenbei von belegten Brötchen über Kaffee und Süßigkeiten bis hin zu Zeitungen und Zigaretten allerlei Kleinkram verkaufen. Viele Zeitgenossen sind froh, dass sie es hier noch mit leibhaftigen Menschen und nicht nur mit Automaten zu tun haben. In der benachbarten Imbissstube „Soylu Esspress“ können Wartende ihren Döner, ihre Pasta oder ihre Pizza an gedeckten Tischen – bei gutem Wetter auch im Freien – verzehren. Unmittelbar daneben lockt die gepflegte „Lounge“ abends und mit dem Brunch am Sonntagmittag Gäste an. Im ersten Stock hilft das Helen Early English Lernzentrum Kindern und Kleinkindern, spielerisch Englisch zu lernen. Die Tanzschule Pritzer ist generationenübergreifend ein attraktiver Anziehungspunkt.

Jüngere können sich kaum vorstellen, wie es im Bahnhof Oberursel oder auch andernorts zu Zeiten der Reichsbahn bis 1949, der Deutschen Bundesbahn von 1949 bis 1993 und danach, als die Privatisierung zur Deutschen Bahn AG erfolgt war, aussah. Dort, wo die große gläserne Tür unter einem Rundbogen in die „Lounge“ führt, war früher der Haupteingang zur Bahnhofshalle. Hier hielten sich die Fahrgäste in einem Wartesaal auf oder stärkten sich in einer kleinen Gastwirtschaft für die Reise. Da gab es Schalter, an denen man die Fahrkarten kaufte. Noch in den 1950er-, 1960er-Jahren kontrollierten Bahnmitarbeiter an der sogenannten Sperre oberhalb der Treppe zum Bahnsteig die Billetts. Und wer jemanden zum Zug begleiten wollte, musste sich eigens eine Bahnsteigkarte kaufen. Bis in die 1950er-Jahre gehörte der Bahnhofvorsteher mit seiner roten Schildkappe, der zum Zeichen der Abfahrt des Zuges gravitätisch seine Kelle hob, zum gewohnten Bild. Die Wagen waren vor dem Krieg noch in drei und bis 1928 sogar in vier Klassen unterteilt.

Spätgotik und Renaissance

Regelmäßig waren Männer damit beschäftigt, die Gleise intakt zu halten. In strengen Wintern mussten nicht selten die Weichen mit der Hitze von glühender Kohle in eisernen Körben aufgetaut werden. Der Schrankenwärter kurbelte in schöner Regelmäßigkeit die Schranke rauf und runter. Nach der Elektrifizierung der Strecke verlor das denkmalgeschützte Bahnwärterhäuschen 1977 seine Funktion als Stellwerk. Es diente danach bis 2009 dem Taunusklub als Wanderheim und wird heute von der Flüchtlingsfamilienhilfe Oberursel im Verein Windrose für Hausaufgabenhilfe und Kinderbetreuung genutzt.

Am 21. September 1901 wurde der Bahnhof, der bis auf den heutigen Tag sein Aussehen weitgehend bewahrt hat, seiner Bestimmung übergeben. Der Architekt Achim Wegener hatte sich in seiner Stilgebung ein wenig an der Spätgotik und der Renaissance orientiert. Zudem sorgen Fachwerkelemente für einen anheimelnden Charakter. Erst sechs Jahre später im Jahre 1907 wurde der Bad Homburger Bahnhof eingeweiht, der als Durchgangsbahnhof zwei recht nah beieinander liegende Kopfbahnhöfe der beiden Zugverbindungen nach Frankfurt sowie nach Usingen (ab 1895) und Friedberg (ab 1901) ersetzte. Der ausladende, repräsentative Bau entsprach dem Wunsch von Kaiser Wilhelm II., der regelmäßig mit seiner Entourage seine Homburger Sommerresidenz besuchte. Für ihn wurde an Gleis eins ein gesondertes Empfangsgebäude, der sogenannte „Fürstenbahnhof“, errichtet. Oberursel, wo man es lieber eine Nummer kleiner hat als die Homburger, hatte sich für einen Bahnhof mit bescheideneren Ausmaßen entschieden, der sich aber durchaus sehen lassen kann.

Die „Homburger Bahn“, welche die Kurstadt mit dem nahen Oberursel und dem 18 Kilometer entfernten Zielbahnhof in Frankfurt verband, wurde aber schon am 10. Oktober 1860 eingeweiht. Das war 25 Jahre, nachdem die erste mit Dampflokomotiven betriebene deutsche Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth den öffentlichen Personenverkehr aufgenommen hatte, zehn Jahre nach der Stockton and Darlington-Railway in England, der ersten Eisenbahnlinie der Welt, die mit George Stephensons Lokomotive „Nr. 1“ eine Distanz von neun Meilen – 14,4 Kilometer – zurücklegte. Bei der Finanzierung der Strecke nach Frankfurt kam der Homburger Spielbank, die sich von der Eisenbahn mehr Kunden versprach, eine wesentliche Rolle zu. Bis dahin waren viele ihrer Gäste auf die Pferde-Omnibuslinie Frankfurt – Oberursel – Homburg angewiesen. Die Schienenverbindung zwischen Homburg, das erst im Jahr 1912 seinem Namen ein „Bad“ voranstellen durfte, und der Messestadt wurde von der „Homburger Eisenbahngesellschaft“ unter der Leitung von Edmund Heusinger von Waldegg, einem der bedeutendsten Eisenbahningenieure des 19. Jahrhundert, errichtet.

Bahnhof in der Au

Mit Beginn der Homburger Bahn hielten die Züge auch schon an der Station Oberursel, das vom Streit zwischen Nassau und Hessen-Kassel um den Zugang zur Kurstadt Homburg profitierte. Denn ursprünglich sollte die kürzeste Strecke über Bonames führen. Endpunkt in Frankfurt war der Bahnhof der Main-Weser-Bahn an der Taunusanlage. Der spätere Hauptbahnhof wurde erst 1888 als „Centralbahnhof Frankfurt“ eröffnet. Wie der heutige Bau lag der historische, recht schmucklose Oberurseler Bahnhof ebenfalls nördlich der Schienen im Bereich des heutigen Parkplatzes neben dem Stellwärterhäuschen. Wie allgemein üblich wurde auch der Oberurseler Bahnhof außerhalb der Stadt, in der Au, errichtet. 1901 seiner ursprünglichen Funktion beraubt, diente das Gebäude vor allem Bahnbediensteten als Domizil. Mit dem Abriss des historischen Bahnhofs im Jahr 1977 verschwand ein markantes Stück Oberurseler Geschichte.

Mit der fortschreitenden Industrialisierung kam dem Güterverkehr eine zunehmende Bedeutung zu. Folgerichtig wurde unweit des Oberurseler Bahnhofs ein Güterbahnhof errichtet, der 1894/1895 durch einen Neubau ersetzt wurde. Mitte der 1970-er Jahre fiel der Oberurseler Güterbahnhof dem Rotstift der Bundesbahn zum Opfer, die wegen der höheren Stückgutzahl die Abfertigung in Bad Homburg bündelte. Auf dem nun brachliegenden Gelände des Oberurseler Güterbahnhofs registrierte im Jahr 2008 der Biologe Prof. Rüdiger Wittig 222 Pflanzenarten – mehr als doppelt so viele wie im Taunus.

Eine wichtige Rolle für den Güterverkehr spielte die 1899 eröffnete von der „Frankfurter Lokalbahn AG“ (FLAG) betriebene „Gebirgsbahn“, die anfangs nur zwischen dem Bahnhof Oberursel und der Hohemark und von 1909 an zwischen Heddernheim und der Hohemark verkehrte. Deren von einer Dampflok gezogene Wagen belieferten die entlang dem Urselbach aus Mühlen entstandenen Fabriken wie die Weberei und Spinnerei Hohemark, die Motorenfabrik (heute BMW Rolls Royce) oder das Wasserkraftwerk Kupferhammer mit Materialien. Die Bahn, die von 1910 an als Linie 24 der FLAG und der Frankfurter Straßenbahn elektrisch betrieben wurde, beförderte aber auch viele Ausflügler zur Endstation Hohemark. Seit 1978 können die Passagiere modernere U-Bahnwagen der Linie U3 (Anfangs A3) benutzen. Der Güterverkehr aber wurde erst im Jahr 1983 vollends eingestellt. 1970 wurde auch die Eisenbahnstrecke zwischen Friedrichsdorf und dem Frankfurter Hauptbahnhof elektrifiziert. Im Mai 1978 begann dann das S-Bahn-Zeitalter. Damit gehörte die Ära der Dampf- und Dieselloks endgültig der Vergangenheit an. Dem Bahnhof aber sind die Zäsuren der Entwicklung nicht anzusehen. Er steht da wie ein unveränderliches Monument Oberursels.

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