Mundschutz für die Schüler, Maulkorb für die Eltern

„Wir müssen jetzt anfangen, das ‚Duale System‘ aus Online- und Offline-Schooling gemeinsam in Standards festzulegen“, sagt Gereon Stegmann, Vorsitzender des Kreiselternbeirats. Foto: js

Hochtaunus (js). Am Montag, 18. Mai, sollen die Schulen weiter geöffnet werden, und für zahlreiche Kinder und Jugendliche soll der Klassenunterricht wieder in eingeschränkter Form beginnen. Darunter sind die Viertklässler und alle Schüler an weiterführenden Schulen. Die übrigen Grundschüler sollen am 2. Juni, direkt nach Pfingsten, in die Klassenräume zurückkehren. Wie das dann aussehen wird, ist für viele der Beteiligten noch völlig unklar. Die Sprecher des Kreiselternbeirats, Klaus Winkler und Gereon Stegmann, äußern im Gespräch mit Jürgen Streicher nach der Probezeit von knapp acht Wochen „Homeschooling“ Sorgen und Bedenken mit Blick auf den neuen Schulalltag.

Die ersehnte Öffnung der Schulen naht mit Riesenschritten. Sie markiert, das sehen jedenfalls viele „Experten“ so, eine Wende im Schulleben. Ist der Hochtaunuskreis als Schulträger darauf vorbereitet?

Klaus Winkler: Nein, kann er auch gar nicht. Die Informationen vom Kultusministerium erreichen ihn viel zu spät, um effektive Vorbereitungen treffen zu können. Es gibt viele Seiten Handreichung vom Kultusministerium, aber keine Standard-Checkliste. Ersehnte Öffnung? Die Eltern sind da sehr gespalten.

Und die Schulen selbst, wie sind die vorbereitet? Sind die Schulen in Entscheidungsprozesse einbezogen worden oder erwartet man von ihnen nur Vollzug von Anordnungen?

Gereon Stegmann: Schulen werden nur als Datenlieferanten und Umsetzer einbezogen. Ein Dialog zum Finden geeigneter Maßnahmen ist nicht erkennbar. Unkonkrete Anweisungen sollen individuell umgesetzt werden.

Winkler: Nein, weder Eltern noch Schulen sind eingebunden. Ein Beispiel: Die ellenlange Vorgabe zum Hygienekonzept kommt am Donnerstag, am Montag darauf soll es funktionieren. In der Zeit sollen dann alleine im Hochtaunuskreis für 59 Schulen 59 individuelle Hygienekonzepte erstellt werden.

Wie stellt sich denn in diesen Krisenwochen die Kommunikationskultur dar?

Stegmann: Kommunikation findet nur statt, wenn wir Eltern sie anstoßen oder einfordern.

Winkler: Eine offene und aktive Beteiligung ist nicht feststellbar. Auch mit dem Kultusministerium ist die Kommunikation nicht zielführend. Wir lassen gerade prüfen, gegen welche Eltern-Rechte, die sich aus dem Hessischen Schulgesetz ergeben, eigentlich alle verstoßen wird.

Und wie könnte man zumindest ansatzweise Gleichberechtigung aller Akteure darstellen?

Winkler: Kommunikation bidirektional mit allen Beteiligten und das am besten auf Augenhöhe und frühzeitig, bevor die Pressemitteilungen vom Kultusminister verschickt werden.

Stegmann: Uns geht es um die Kinder und Jugendlichen. Etwa bei Erlassen und Handreichungen hätten wir vorab auf handwerkliche Fehler hinweisen können. Aber wir stellen Fragen und werden deswegen als Störfaktor wahrgenommen.

Und jetzt seht mal zu, was ihr daraus macht.Ist es wirklich so schlimm?

Winkler: Es wird viel ertragen, keiner wagt den Widerspruch. Das System Stille, dadurch geht viel verloren.

Stegmann: Ja, Verzweiflung und Überforderung zeichnen das Bild sehr vieler Haushalte. Das zeigt sich bei den vielen Gesprächen mit den Eltern. Aber keiner schreit nach Hilfe, es wird von den meisten in Demut ertragen, um keine Schwächen eingestehen zu müssen.

Ist das bisherige System Schule mit der neuen Situation völlig überfordert?

Winkler: Nein, nur alleine gelassen und weder verzahnt noch beschult. Die Frage ist doch: Wie stellen wir das neue „On-Off“-Schulsystem auf eine stabile Basis? Wir werden das bisherige System nicht mehr haben. Aber wann fangen wir endlich damit an, das neue System gemeinsam zu bauen?

Acht Wochen „Homeschooling“ – wie sieht Ihre Bilanz aus?

Stegmann: Volle Bandbreite. Je nachdem, welche Schule man betrachtet, sind alle Bewertungen vorhanden. Es gibt ein paar Schulen, wo es prima läuft. Aber es müssen Standards für alle Schulen geschaffen und ein System für die Evaluation aufgebaut werden.

Winkler: Wo ist die Pädagogik geblieben? Vor allem kommt von den Eltern immer wieder die Frage: Wo bleibt eigentlich die pädagogische Unterstützung der Lehrkräfte beim Homeschooling?

Hat man da sechs Wochen verschlafen?

Stegmann: Wer wollte, konnte schlafen oder in den Urlaubsmodus gehen. Regelungen gab es ja keine und Kontrolle somit auch nicht.

Die Kinder kommen also auf einem extrem unterschiedlichen Stand zum Neuanfang?

Winkler: Ja, wie eine Klasse nach dem Schulwechsel. Einige haben sich ganz neue Fähigkeiten erarbeitet: neue Lernformen und Lernzeiten finden, Wochenpläne entwerfen und abarbeiten, Zusammenarbeit im Team, neue digitale Werkzeuge … Wir haben aber auch ganze Gruppen an Kindern verloren, gerade die Bedürftigen und die Inklusionskinder.

Was ist da falsch gelaufen? Fehlen da jegliche Standards in der Handhabung?

Stegmann: Standards fehlen, leider aber auch die Möglichkeiten zur Schaffung von Anreizen zum Einsatz. Es gibt keine Boni. Wir müssen jetzt anfangen, das „Duale System“ aus Online- und Offline Schooling gemeinsam in Standards festzulegen. Um verlorene Inhalte mache ich mir weniger Sorgen.

Es gibt keine Vereinheitlichung beim Homeschooling-Programm, klagen Eltern. Arbeitsaufträge müssten an verschiedenen Stellen zusammengesucht werden, in der Schulcloud, auf Internet-Seiten, nur selten im Kontakt mit Lehrern. Kinder sind überfordert, Eltern sind überfordert.

Winkler: Die Kinder sind in der Technik selten überfordert, die Eltern manchmal, aber leider viele Schulen. Auch weil es keinen Austausch zwischen den Lehrern gibt beziehungsweise keine klaren Vorgaben. Wir wissen bis heute nicht, ob alle Lehrer und alle Schüler online sind. Das Kernproblem ist die fehlende Interaktivität, die gar nicht unbedingt online erfolgen muss. Das müssen Sie sich vorstellen: Es gibt mehr als 50 Prozent der Schüler, die bis jetzt keinen Austausch direkt mit ihren Lehrkräften hatten, sei es per Telefon, durch Besuche oder Videokonferenzen.

Die Digitalisierung in der Schule hinkt also stark hinterher? Kann den Anforderungen nicht gerecht werden?

Stegmann: Nicht allen. Insbesondere der fehlende Zwang, sich mit der Digitalisierung der Gesellschaft beschäftigen zu müssen, verstärkt die Thematik. Leider fehlt da auch die entsprechende Beschulung der Schulenden. Dabei gibt es so viele, die Ahnung von Digitalisierung haben, die aber nicht einbezogen werden.

Winkler: Was auch kurzfristig möglich wäre, ist Volkshochschule, Lernpartner, Infrastrukturpartner … einzubinden. In Schulen fehlt W-Lan, der technische Support fehlt, agiles Arbeiten gibt es nicht.

Es gibt Schüler ohne E-Mail-Anschluss, ohne PC oder Laptop – wie könnte man das auffangen?

Winkler: Mit den vorhandenen Mitteln aus dem Digital-Pakt. Nur der Wille, schnell in die Umsetzung zu gehen, fehlt da offensichtlich. Bisher wurde ja nicht einmal gezielt von den Lehrkräften abgefragt, wer überhaupt am digitalen Heimunterricht teilnehmen kann oder warum nicht.

Verbindliche Standards und eindeutige Formate für Arbeitsaufträge, wie kriegt man das hin? An jeder Schule jeder für sich oder nur alle im Gleichklang?

Stegmann: Es müssen verbindliche Mindeststandards von oben vorgegeben werden, die aber fortlaufend evaluiert und angepasst werden. Aber Achtung: Nicht nur technische, sondern vor allem pädagogische Standards.

Was sind die Lernziele? Diese Frage wurde Kultusminister Lorz gestellt. Die Antwort: Gibt es nicht, es geht nur darum, Kinder in die Schule zurückzubringen. Also Reset-Taste, Neustart und mal gucken, was geht?

Winkler/Stegmann: Ja, es ist aus unserer Sicht ein rein politischer Schulstart am 18. Mai.

Kinder müssen in eine neue Schule, Lehrer müssen sich in ein neues Lernsystem einklinken. Im Wechsel Präsenzunterricht und Homeschooling oder von zu Hause aus per Video-Konferenz zugeschaltet, das klingt innovativ, aber auch sehr kompliziert. Gibt es dafür einen Plan?

Stegmann: Wir haben noch keinen gesehen. Das Ministerium behauptet, dass für alle Herausforderungen stets Pläne im Voraus erarbeitet sind, uns wird die Einsicht in diese geheimen Dokumente verwehrt. Oder gibt es sie gar nicht?

Winkler: Kann Schule nicht endlich einmal das tun, was sie tun sollte? Gemeinsam lernen mit allen Beteiligten. Schritt für Schritt. Eltern wollen nicht Lehrer sein. Es gilt, Rollen zu verstehen, Rollen einzunehmen.

Ist das Schulsystem, ist der Lehrkörper darauf vorbereitet? Mal abgesehen von technischen und infrastrukturellen Anforderungen in der neuen Schulwelt? Sie haben den schönen Begriff „On-off“-Betrieb benutzt.

Stegmann: Einige Schulen sind extrem gut vorbereitet und meistern die Lage mit herausragenden Leistungen. Leider fehlt der gezielte Austausch zwischen den Schulen.

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