Wie aus Ania eine Anna wurde

Frau Dr. Reusch bei ihrer Lesung im Bürgerhaus.Foto: Ak Olkusz-Schwalbach

Schwalbach (sn). Eine außergewöhnliche polnisch-deutsche Migrationsgeschichte.

Zur Lesung aus ihrem Erstlingswerk hatten der Arbeitskreis Städtepartnerschaft Olkusz-Schwalbach und die Deutsch-Ausländische Gemeinschaft die Schriftstellerin Judith Reusch eingeladen.

Günter Pabst begrüßte im „ausverkauften“ Kleinen Saal des Bürgerhauses zu dieser „außergewöhnlichen“ Veranstaltung unter Corona-Bedingungen: Statt 70 Plätzen durften nur 24 belegt werden.

Judith Reusch setzte das Wissen über die jüngste Geschichte Polens weitgehend voraus und so machte sie gleich mit Ania, dem aufgeweckten Mädchen bekannt, die bei ihren Großeltern mit ihrer älteren Schwester zurückbleiben musste.

Der Vater nutzte einen Erntehelfer-Aufenthalt und blieb in Deutschland und die Mutter bekam auf Umwegen nur eine Ausreisegenehmigung ohne die Kinder. Sie fuhr zu ihrem Mann in der Hoffnung, dass die Kinder bald nachfolgen würden. Das Kriegsrecht, von dem damaligen Ministerpräsidenten Wojciech Jaruzelski, 1981 verhängt, machte dem einen Strich durch diese Überlegungen. Ania, acht Jahre alt, sieht die Welt etwas anders als die Erwachsenen und vertraut sich ihrem Tagebuch an. Sie sammelt darin ihre Wörter.

Erst nach einem Jahr dürfen sie dann endlich zu ihren Eltern nach Deutschland ausreisen. Ania spricht kein Deutsch und Judith Reusch schildert mit eindrucksvollen Worten den Werdegang des jungen Mädchens, bis aus Ania eine Anna wurde. Humorvoll erzählt sie die Geschichte, die auch eine Geschichte einer erstaunlich gelungenen Integration ist.

Im anschließenden Gespräch erläutert sie, dass die Rahmenhandlung autobiografische Züge hat und die eine und andere Szene tatsächlich passiert ist, so z.B. die Geschichte mit dem Aufzug, den sie nicht alleine bedienen konnte.

Judith Reusch sprach auch über ihren Lebensweg, der nicht gradlinig verlief. In der Zeit der Mutterschaft war an eine Karriere in der Universität nicht zu denken. Aber sie ließ sich nicht entmutigen – etwas, was vielen Polen, die in Deutschland leben, zu eigen ist – zielstrebig baute sie ein kleines Startup-Unternehmen auf und schneiderte erfolgreich mit befreundeten Müttern Kinderkleidung.

Einige Zuhörerinnen knüpften in ihren Fragen an ihre eigene Biografie an und machten deutlich, dass der Prozess der Integration ein schwieriger und langwieriger ist, auch wenn er im Rückblick als gelungen empfunden wird.

Judith Reusch machte Abitur, studierte und promovierte. Heute ist sie als Dozentin für Deutsch am Sprachzentrum der Universität Stuttgart tätig.

Auf Vermittlung des kommunalen Jugendbildungsreferenten, Achim Lürtzener, war Frau Dr. Reusch am Vormittag des nächsten Tages an der Albert-Einstein-Schule (AES) mit ihrem Buch beim PoWi-Leistungskurs der Stufe Q1 von Cordula Russe-Kalenberg zu Gast. Dabei verstand sie es, den literarischen Stoff durch eine hinführende gemeinsame Erarbeitung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds für die Schüler nachvollziehbar zu machen. Dass es der Autorin gelungen war, das Interesse der Jugendlichen zu wecken, belegte das ausführliche Nachgespräch, bei dem neben politisch-historischen Themen auch Einschätzungen zur aktuellen politischen Situation in Polen und zur Vergleichbarkeit mit der Demokratiebewegung in Belarus behandelt wurden. Zudem kamen aufgrund der autobiografischen Bestandteile des Romans viele persönliche Fragen auf, die von Frau Dr. Reusch gerne beantwortet wurden.

Letzteres beurteilte Jochen Kilb, Fachbereichsleiter Gesellschaftswissenschaften an der Albert-Einstein-Schule, im Nachgang der Veranstaltung besonders positiv. „Wenn Schule den Jugendlichen erlebte Zeitgeschichte durch familiäre Schilderungen nahebringt, so kann dies vielleicht sogar nachhaltiger sein, als reine Faktenvermittlung.“

Es ist ein außergewöhnliches Buch von einer außergewöhnlichen Schriftstellerin.

„Anna – Das Buch der Wörter“ ist im Kalliope Paperbacks Verlag Heidelberg erschienen.

Frau Dr. Reusch an der Albert-Einstein-Schule mit ihrem Buch beim PoWi-Leistungskurs der Stufe Q1.Foto: Ak Olkusz-Schwalbach

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