Mehr „Komorebi“ statt immer „Karoshi“

Ziel des Waldbadens ist es, zu entschleunigen. Heide Beyerle (links) zeigt Jeannette Beck, wie das funktioniert. Zum Beispiel mit einer Tastübung, bei der alle Sinne angeregt werden. Foto: csc

Von Christine Sarac

Steinbach. Ein großer Schritt genügt. So, als wollte man eine unsichtbare Schwelle überschreiten. Nun stehen wir gemeinsam mit Heide Beyerle mitten im Steinbacher Wald. Es ist kein dunkler Forst, wie aus dem Grimm’schen Märchen. Tatsächlich ist die Zivilisation nur einen Steinwurf weit entfernt. Die Phorms-Schule liegt um die Ecke, genauso die Tennisplätze des TC Steinbach, von denen hin und wieder ein leises „Plopp“ zu hören ist, wenn der Ball auf den Schläger trifft. Doch all das haben wir schon längst vergessen, dafür sorgt Heide Beyerle. Die 50-Jährige bietet etwas an, was in Japan Gang und Gäbe ist: Waldbaden.

Heide Beyerle stammt aus dem „Schwabenländle“, genauer gesagt ist sie in Stuttgart geboren und hat die meiste Zeit ihrer Kindheit im Schwarzwald verbracht. „Ich war immer ein Waldkind“, erzählt sie. „Da fühle ich mich bis heute wohl, und ich merke, dass mir der Wald gut tut.“ So wie der studierten Geographin geht es vielen Menschen, auch wenn sie es vielleicht nicht so bewusst wahrnehmen wie Heide Beyerle. Das Waldbaden hat sie erstmals durch eine Freundin aus Japan kennengelernt. „Als ich sie in ihrer Heimat besucht habe, war ich erstaunt darüber, wieviele Therapiezentren es dort gibt, in denen Waldbaden praktiziert wird“, erinnert sie sich. Während der Coronapandemie hat Heide Beyerle ihre Spaziergänge im Wald intensiviert und beschlossen, mehr daraus zu machen. Im Schwarzwald ließ sie sich zur Expertin für Waldbaden zertifizieren und bietet auf ihrer Homepage „Natoursinn“ nicht nur Waldbaden, sondern auch Kräuterführungen an. Doch was heißt Waldbaden genau?

„Zwei Fragen werden immer gestellt“, weiß die Fachfrau. „Erstens, ob das Waldbaden was mit Wasser zu tun hat, und zweitens, ob man Bäume umarmen muss“, sagt sie und lacht. Die Antwort auf die erste Frage lautet: „Nein, man badet nur in der guten Luft des Waldes. Und Bäume umarmen muss man nicht, man kann es aber tun.“ Es geht beim Waldbaden um Entschleunigung, um Achtsamkeit, also bewusstes Erleben der Natur. „Wir haben in dieser Welt, die von Hektik und Leistungsdruck geprägt ist, verlernt zu entspannen“, sagt Beyerle. Die Japaner haben dafür ein Wort. Es heißt „Karoshi“ – das bedeutet wörtlich übersetzt „zu viel Arbeit tot“. „Der Mensch hat den Urinstinkt, Teil der Natur sein zu wollen. Genau da setzt Waldbaden an.“ Wie das genau funktioniert ist recht simpel erklärt. In der Regel sollte man sich zwei Stunden Zeit nehmen. Das Waldstück sollte möglichst ruhig gelegen und eben sein. Asphaltierte Wege sind tabu. Je abwechslungsreicher die Strecke, desto besser. Das Handy hat in dieser Zeit natürlich Sendepause. „Der Steinbacher Wald hat viel zu bieten, denn hier findet man nicht nur einen Buchen-Eichen-Mischwald vor, sondern auch Ahorn, Linden, Eschen, Esskastanien und Eberesche. Enge und breite Pfade bieten Abwechslung fürs Auge. „Diese Vielfalt lässt sich mit allen Sinnen wahrnehmen“, so Beyerle.

Und genau das tun wir, nachdem wir in den Wald eingetreten sind. Heide Beyele leitet eine erste Atemübung an. Mit den Händen auf den Solarplexus gelegt, atmen wir tief und bewusst ein und aus. Tatsächlich schärft sich mit jeder Übung die Wahrnehmung. Plötzlich spüren wir den Wind, hören das begleitende Blätterrauschen und riechen den modrigen Duft, den ein morscher Baumstamm am Wegesrand verströmt. „Meine Güte, die Vögel zwitschern ja unglaublich laut“, stellt Teilnehmerin Jeannette Beck fest. Normalerweise werden ihre Stimmen einfach vom Alltagslärm übertönt. „Ich komme ursprünglich aus Thüringen“, verrät Jeannette Beck. „Aber ich habe den hessischen Wald schon lieben gelernt.“ Beim Gehen federt das Laub unsere Schritte ab, knacken kleine Zweige unter unseren Schuhen. Jeder Sonnenstrahl, der durch das Blätterdach dringt, wird von uns begrüßt und zur Kenntnis genommen. „Auch dafür haben die Japaner ein Wort“, weiß Heide Beyerle: „Komorebi – Sonnenlicht, das durch Bäume fällt“. Es gibt noch viele weitere Übungen. Zum Beispiel das Ertasten von Dingen, die um uns herum zu finden sind mit geschlossenen Augen. Dabei ist Heide Beyerle aber wichtig, dass jeder nur das mitmacht, wozu er Lust hat und was gut tut. Nach zwei Stunden ist unsere kleine Flucht aus dem Alltag zu Ende. Erst beim Abschiedsritual, dem bewussten Austreten aus dem Wald, fällt auf, dass wir wirklich für kurze Zeit abgetaucht waren aus den Zwängen des Müssens und Sollens. Es fühlt sich ein bisschen so an, als wäre man aus einem tiefen Schlaf aufgewacht.

Wer selbst einmal die Erfahrung des Waldbadens machen möchte, kann sich bei Heide Beyerle für eine ihrer Touren anmelden. Die nächste ist für Sonntag, 19. Juni, von 15 bis 17 Uhr geplant. Weitere Termine sind im Internet unter www.natoursinn.de zu finden.



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