Bad Homburg (hw). Das vierköpfige Musik-Ensemble, Mitglieder des HR-Symphonieorchesters, die Harfe, die Bratsche, das Cello und die Querflöte, haben schon Platz genommen. Doch bevor Andrea Sawatzki unter großem Applaus die Bühne des Kurtheaters betritt, wartet Veranstalter Bernd Hoffmann mit schlechten Neuigkeiten auf. Ein großes enttäuschtes Raunen ist in den Zuschauerreihen zu vernehmen, als bekanntgegeben wird, dass Christian Berkel seit Samstagabend erst von seiner positiven Coronatestung weiß und deshalb nicht aus Wien ausfliegen konnte, um an der Seite seiner Frau beim Auftakt des Poesie- und Literaturfestivals dabei sein zu können.
Aber was dann auf die Zuschauer zukommt und was sie nicht einmal erahnen, weil die Enttäuschung über die Nachricht des fehlenden Christian Berkel noch nachwirkt, ist ein grandioser Abend. Andrea Sawatzki übertrifft sich selbst. Sie versucht nicht nur, den Part ihres Mannes zu ersetzen, sondern sie absolviert eine wahre Glanzleistung, inszeniert eine beeindruckende One-Woman-Show und schafft damit aus der Not heraus eine erstklassige Darbietung. Über zwei Stunden liest sie aus Lewis Carolls Roman „Alice im Wunderland“ vor. Aber nicht nur das. Auf ihre unvergleichliche Art imitiert sie die Stimmen der Tiere, der Königin, des Königs aus dem Kartenspiel, die in diesem wundersamen Kinderbuch plötzlich lebendig werden.
Es ist die Geschichte eines Mädchens, das durch einen Zaubertrank an Größe verliert, in einen Hasenbau fällt, um dort in ein Fantasiereich einzutauchen, das – beängstigend und faszinierend zugleich – die junge Alice zu einigen Abenteuern herausfordert.
Der Text ist voller Dialoge, und Andrea Sawatzki wird dazu gezwungen, viele verschiedene Charaktere darzustellen, die sie mit ihrer Stimme moduliert und damit unverwechselbar macht. Lewis Carolls Roman stellt ein buntes, schillerndes Treiben vor, eine Welt, in der Tiere nicht nur menschlich übersteigerte Züge angenommen haben, sondern karrikaturhaft überzeichnet sind.
Um sich dabei als Zuhörer überhaupt zurechtzufinden und der Geschichte über ihre vielen versponnenen Handlungsebenen folgen zu können, ist der Wiedererkennungseffekt durch die charakteristische Sprechweise der jeweiligen Figuren von so immenser Bedeutung.
Es ist hier eine wahre Freude, Andrea Sawatzki dabei zuzuhören und die Schauspielerin dabei zu bewundern, wie sie nicht nur mit ihrer Stimmmodulation genau den Punkt zu treffen vermag, den Charakter jeder Figur einfängt, sondern auch mit welch exakter Betonung und verhaltener Mimik sie dies tut. Einige der vielen Höhepunkte sind sicherlich der Gesang der „falschen Schildkröte“ oder das Erscheinen der Grinsekatze, die Andrea Sawatzki mit großer Genauigkeit lebendig werden lässt. So wird der Roman, der voller irrwitziger Fantasien ist, zu einer eigenen Welt vor dem inneren Auge eines jeden Zuhörers im Saal.
Kleine Verschnaufpausen tun da allemal gut. Die Musik setzt viermal eine Pause. Darunter auch mit Astor Piazzollas „Libertango“. Ein mitreißendes Tangostück, neu und verträumt interpretiert mit Harfenklang.
Die offenbar aufs Beste konditionierte Andrea Sawatzki nutzt nicht ein einziges Mal die Gelegenheit, um zum Wasserglas zu greifen. Chapeau, was diese Schauspielerin zu leisten vermag. Mit sich immer weiter steigernder Energie, je länger sie liest, so scheint es, wird sie eins mit ihrem Text. Unter begeistertem Applaus eines enthusiastischen Publikums erklärt sie augenzwinkernd und spielerisch empört, dass die Präsenz ihres Mannes ihr schon recht hilfreich gewesen wäre, um sie bei der Stimmenvielfalt des Roman-Ensembles zu unterstützen. Wer wissen will, wie es Alice auf ihrer Abenteuertour weiter ergeht, dem verspricht sie, im nächsten Jahr wiederzukommen nach Bad Homburg. Aber dann auf jeden Fall zu zweit.