„Wir entkommen dem Deutschsein nicht“

Bad Homburg (ivy.) Immer wieder stolpern wir über Stolpersteine. Auch an der Schuldfrage für die Verbrechen Deutschlands im Nationalsozialismus, besonders der Verantwortung für den Holocaust, kann man sich stoßen.„90 Jahre Schuld?“ stellt eine normative Frage über richtiges Verhalten, keine empirisch klärbare Frage über nachprüfbare Vorgänge. Und das Normative braucht Kommunikation, Konsens, Dissens, Schisma, Abwägung, Entscheidung.

Der Referent Joachim Rückert, Professor Emeritus für Neuere Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität, startet mit der Frage, um was für eine Art von Schuld es sich hier handeln soll, die noch über drei Generationen weiter anhält?

Die Aktivitäten und Propaganda der AfD, sowie der sogenannten „Reichsbürger“ zeigen, dass dieses Thema immer noch aktuell und nicht abgeschlossen ist. Eine Schuldreflexion sei immer noch vonnöten.

Der Vortrag geht im Titel von 90 Jahren aus, da 1934 „die Vollendung der unumschränkten Diktatur erreicht wurde“. Dies ist ein Zitat von Walther Hofer aus dem Jahre 1957.

Rückert fährt fort mit der Erläuterung des Verstummens vor der hohen Zustimmung mit dem NS-Regime. 1933 habe es beispielsweise noch keine systematische Wahlfälschung gegeben. Man konnte also noch ohne großes Risiko ungültig oder gar nicht wählen. Trotzdem könne man davon ausgehen, dass ungefähr 60-70 Prozent, dies stellt eine große Mehrheit dar, des Volkes dem Regime zustimmten.1943 hatte die NSDAP 7,7 Millionen Mitglieder. Zum Vergleich haben SPD und CDU heute jeweils rund 400 000 Mitglieder.

„Als junger Mensch, der das nicht erlebt hat, ist das irgendwie Wahnsinn“, stellt Professor Rückert fest. Anschließend teilte der Referent die Begriffe Verantwortung und Schuld in vier Bereiche ein.

An erster Stelle stünde hier die politische, kriminelle und völkerrechtliche Verantwortung für den imperialen Weltkrieg und die massenhaft tödlichen Verfolgungen im Holocaust. Diese bilden darüber hinaus das erste Schuld- und Verantwortungsproblem. Außerdem bestünde die Verantwortung für die Diktatur, ihre Opfer und die politische Deformierung der Gesellschaft nach innen.

Als Zweites bestehe die politisch ideelle Verantwortung für die bewusste Abkehr von den Kulturidealen und Rechtsidealen der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Sowie von der christlichen Liebesmoral und vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Ausgerufen wurde stattdessen die angeborene Ungleichheit und des Weiteren der Vorrang der sogenannten rassereinen Volksgemeinschaft, anstatt rechtlich gleicher individueller Staatsbürgerschaft. Hier komme noch die biologische Euthanasie und die zentrale Führerhierarchie bis hin zur Züchtung statt der freien Entwicklung der Menschen hinzu.

Heute sehe man den Wesenskern der NS-Verbrechen in Antisemitismus und Holocaust. Mit Recht, so betonte Rückert, wobei dies bei Weitem nicht die ganze Schuldgeschichte sei.

Der dritte Begriff sei die politisch strukturelle Verantwortung. Es gäbe eine schamlose Nutzung von Unrecht, also im Sinne der Kulturtradition Westeuropas und der rechtliche Vorrang des Parteiprogramms.

Rückert stellte daraufhin fest, dass es 60 bis 75 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg gegeben habe und es starben erstmals in einem Krieg mehr Zivilisten als Militär. Dies sei eine „brutale Realität“.

Die Schuldfrage zum „wir“ erfordere immer wieder Reflexionen. Daher der Titel des Vortrags: „Die NS-Zeit und wir“.Individuelle Schuld sei einfacher zu behandeln. Für uns als einfache Staatsbürger seien NS-Recht und -Staat vorbei.

Laut Professor Rückert könne eine normative Einsicht nur durch Fallvergleich erfolgen: Als ersten Fall zog er ein Zitat von Adolf Arndt aus dem Jahre 1967 zur Rate. „Ich weiß mich mit in der Schuld. (...) Ich bin nicht auf die Straße gegangen und habe nicht geschrien, als ich sah, dass die Juden aus unserer Mitte in Lastwagen abtransportiert wurden. Ich habe mir nicht den gelben Stern umgemacht und gesagt, ich auch. Ich kann nicht sagen, dass ich genug getan hätte. Ich weiß nicht, wer das von sich sagen will. Das verpflichtet uns, das ist ein Erbe, da hat man die Türen zugemacht und hat die Mitschuld auf sich geladen für 10 000 von Menschen, die gerettet hätten werden können. Wenn die gesittete Welt gesagt hätte: Kommt, ihr könnt bei uns Asyl finden. Es geht darum, dass wir der Bürde an Schuld und Unheil die hinter uns liegt, nicht den Rücken kehren.“

Was für eine Art von Schuld ist das, die Adolf Arndt hier zentral macht und in der er sich sieht? Rückert mochte diese Frage im Raum stehen lassen und zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen.

Der zweite Fall beinhaltet ein Zitat von Karl Jaspers: „Angesichts der Verbrechen, die im Namen des Deutschen Reiches verübt worden sind, wird der Deutsche mitverantwortlich gemacht. Wir haften kollektiv. Die Frage ist, in welchem Sinn jeder von uns sich mitverantwortlich fühlen muss? Zweifellos im politischen Sinn der Mithaftung (...). Kollektivschuld also gibt es notwendiger als politische Haftung der Staatsangehörigkeit.“

Dies sei laut Rückert eine ganz andere Schuld als zuvor bei Arndt.

Der dritte Fall besteht aus einem Zitat von Robert Jackson, dem obersten Richter bei den Nürnberger Prozessen. „Wir möchten ausdrücklich klarstellen, dass wir nicht beabsichtigen, das ganze deutsche Volk zu beschuldigen. Wir wissen, dass die Nazipartei bei der Wahl nicht mit Stimmenmehrheit an die Macht gelangt ist. Wir wissen, dass ein ungnädiges Bündnis sie an die Macht gebracht hat. Die NS-Zeit hat den deutschen Namen in der ganzen Welt einen neuen und düsteren Sinn gegeben. Er wird Deutschland um ein Jahrhundert zurückwerfen und wahrlich, die Deutschen nicht weniger als die Welt draußen mit den Angeklagten eine Rechnung zu begleichen haben.“ Von welcher Schuld redet Jackson hier? Er rede von einer nicht kollektiven Schuld, so Rückert.

Der vierte Fall zitiert nochmals Karl Jaspers. „Als im November 1938 die Synagogen brannten und zum ersten Mal die Juden deportiert wurden, standen die Generäle dabei. In jeder Stadt konnte der Kommandant eingreifen, wenn Verbrechen geschahen. Sie taten nichts (...). Es ging sie nichts an. Sie hatten sich von der Seele des deutschen Volkes gelöst. Es war ein Mangel an der absoluten Solidarität mit den Menschen als Menschen.“

Im ersten Fall gehe es laut Professor Rückert um moralische Schuld und somit Gewissensprobleme. Der zweite und dritte Fall werfen die politische Schuld auf, individuell, mitverantwortlich und als Kollektivschuld für alle. Der vierte Fall führe in nicht leicht nachvollziehbare moralisch religiöse Dimensionen.

Rückert kommt schließlich zu dem Fazit, dass man aus den Schuldfolgen lernen kann und Verantwortung übernehmen sollte. Lernen nicht aus der Geschichte, wie oft gesagt, aber aus den Erfahrungen der Menschen mit sich selbst. Weitergehende Zurechnungen über die einzelnen Subjekte hinaus erschienen noch problematischer und ohne klare Maßstarbsnormen, die dort nicht vorliegen, sei Schuld ein makabres Zufallsspiel ohne hinreichende Regeln, die man doch fairerweise bräuchte, wenn etwas vorgeworfen werden soll. Man müsste ja wissen, wozu und wie man eigentlich schuldig wird.

Zum Abschluss des Vortrags gab Professor Rückert zu bedenken, wo denn eigentlich ein Friedensdenkmal stünde. Als Lehre der geschichtlichen Ereignisse könne man abschließend letztendlich nur ziehen, dass man es so nicht mehr machen sollte und, dass man einigermaßen zufrieden sein sollte mit dem, was man nach 1945 unter Hilfe und Aufgabe der Alliierten erreicht habe. Denn ohne diese wäre gar nichts geschehen.



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