Individuelle Blickachsen statt Konzept

Kopflos, armlos, nicht Mann noch Weib, „Ten Seated Figures“ hat die polnische Künstlerin Magdalena Abakamovicz ihre rätselhafte Versammlung genannt, mit der sie ihr künstlerisches Vermächtnis in der Kurstadt hinterlassen hat. Im Gustavsgarten an der Tannenwaldallee werfen sie viele Fragen bei den Betrachtern auf, die auf einer Lichtung plötzlich auf die stumme Gesellschaft stoßen. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Bad Homburg. Die Kunst im öffentlichen Raum der Kurstadt lebt. Auch ohne die 13. Skulpturen-Biennale „Blickachsen“, die für dieses Jahr abgesagt wurde. Sie soll 2022 nachgeholt werden, kündigt der Gründer und Kurator, der Bad Homburger Galerist Christian Scheffel, an. Im Sommer 2021 können sich Kulturinteressierte individuelle Blickachsen selbst kreieren. In der „Skulpturenallee“ zwischen Bahnhof und Rathaus, auf dem Weg durch den Kurpark und den „Tannenwald“ bis hinauf zum „Gotischen Haus“.

Sie ist immer da. Tag und Nacht. Seit fünf Jahren schon. Auch wenn sonst keiner da ist. Keine dösenden Taxifahrer, keine Tauben im Tiefflug. Ein Fixpunkt, wenn alle um sie herum hasten. „Walking Woman“, ein Symbol für Bewegung mit klarem Ziel vor Augen. Wo kommt sie her? Wo will sie hin mit kräftig ausholendem Schritt? Den Blick stets nach vorne gerichtet. Ein Star der „Blickachsen 9“ war sie 2013, jetzt steht sie laufend auf dem Bahnhofsvorplatz, den Blick aufmerksam in Richtung Alfred-Herrhausen-Brücke und zur City gewendet. Die Stadt hat das Werk des Künstlers Sean Henry nach gutem Brauch einst für 100 000 Euro angekauft.

„Walking Woman“ ist ein guter Startpunkt für einen Spaziergang auf den Spuren vergangener „Blickachsen“. In einem Jahr, in dem die Skulpturen-Biennale mit Weltruf leider ausfallen muss, ausgebremst durch ein Virus. Die Kunst im öffentlichen Raum aber ist lebendig, als Konzept eines wachsenden und sich stets verändernden Kunstwerks. Jeder kann sich seine ganz persönlichen Blickachsen bei einem individuell komponierten „Walking Act“ selbst kreieren. Nicht nur beim Ostermarsch, das geht auch am kommenden Wochenende noch.

Sie können sich anschauen, die überlebensgroße Frau aus Bronzeguss vor dem Bahnhof und „Der Wächter“, in verrosteten Stahl gekleidet, eckig, kantig, mit strengem Blick aus viereckigen Augenlöchern auf der anderen Straßenseite Richtung Bahnhof schauend. Der Bad Homburger Künstler Erwin Noll hat ihn seiner Heimatstadt zu seinem eigenen 66. Geburtstag geschenkt, jetzt markiert er den Beginn der kaum mehr als 100 Meter langen „Skulpturenallee“ vor dem Technischen Rathaus. Ein paar Schritte nur bis zu Caspar Berger und seinen „David“ nach Michelangelo-Art. Bronze-Kopf auf Betonsockel, viele Hände greifen nach Davids Hals, sein Antlitz hat viele Gesichter, Nasen vor allem und je ein Herz in der Pupille. Sein Leben scheint hart, aber nicht ohne Hoffnung, frühlingsfrischer Krokus säumt den Sockel und den gepflasterten Rand des Mini-Parks entlang des Fußwegs.

Geballte Skulpturenkunst auf kurzer Strecke, ein halbes Dutzend Werke in einer Blickachse: Der „Tanz Solo“ von Karl Menzel, luftig in Edelstahl. Die Leere, die sich zwischen dem Ich und dem künstlerischen Abbild auf zwei rostigen Plattformen, unvereinbar getrennt, in „Melancholia I“ auftut. Ein Werk der niederländischen Künstlerin Hanneke Beaumont, gezeigt bei den „Blickachsen 7“ 2009. Aufstrebend, aber längst tot, der sechs Meter hohe bearbeitete Stamm einer amerikanischen Roteiche am Straßenrand zum Hessenring. Ein Mahnmal von Erwin Wortelkamp, „Für Lenné“ hat er es genannt, für den preußischen Gartenkünstler, der einst den Kurpark zwischen Schwedenpfad und Kisseleffstraße gestaltet hat. Im Kurpark hat Wortelkamp die darbende Roteiche gefunden.

Über das zerbeulte Blech von Ewerdt Hilgemann auf dem Grünstreifen zwischen den beiden Spuren der Hauptverkehrsachse Hessenring, das im Sommer 2017 zusammen mit zwei weiteren „Equal Volumes“ den Kurpark schmückte, denken wir auf der kurzen Passage zwischen Alfred-Herrhausen-Brücke, vorbei am schmucklosen Rathaus und über die Friedrichstraße hinunter zum Kurpark nach. Dort lenkt uns auf den ersten Blick die im Frühlingssonnenschein blitzende Russische Orthodoxe Kirche von zerquetschten Gedanken ab, dann öffnet sich ein paar Meter weiter auch schon die rostige Spirale „Indeterminate Line“, ein Relikt der Blickachsen-Premiere 1997. Unterhalb des bei Kurgästen beliebten „Schmuckplatzes“ an der Promenade ist sie erster und bester Beleg für die Dauerhaftigkeit der Kunst im öffentlichen Raum. Bietet Blickachsen auf den Park oder den Rücken von Kaiser Friedrich. „Die dankbaren Einwohner“ der Stadt haben ihm 1892 ein Denkmal gewidmet.

Am Schwanenteich haben die Trauerweiden ihr erstes zartes Frühlingskleid angelegt, die Fontäne plätschert, im Hintergrund schimmert der Siamesische Tempel durch die blattlosen Bäume. Wir werden die mit stets neuer Kunst belebenden „Blickachsen 13“ im sommerlichen Park vermissen. Suchen einen möglichst meditativen Übergang durch Altstadt und Schlosspark zum Tannenwald. Schlossgärtner Peter Vornholt und sein Team haben das Schmuckstück bereits herausgeputzt wie eh und je um diese Jahreszeit. Krokus tausendfach und ein Himmelbeet aus blauen Sternhyazinthen. Finale Station unserer Blickachsen-Tour aber wird der wunderbare Gustavsgarten, den Abschluss am Gotischen Haus mit dem „Red Boy“ und der putzigen Maus von Isolde Schmitt-Menzel zu Ehren der Sendung mit der Maus lassen wir außen vor. Und den fulminanten „Big Half Foot“ des schwedischen Künstlers Fredrik Wretman sowieso. So schön hat sein Tritt in den Rasen des Kurparks bei den jüngsten Blickachsen 2019 gepasst, so unseriös hat ihn die Politik an der am stärksten befahrenen Kreuzung der Stadt mit Alibi-Grün umrankt geparkt.

Der Gustavsgarten im klassischen englischen Stil wäre ein viel schönerer Parkplatz für den Fuß gewesen. In einer Blickachse etwa zu den „Emissary Cats“ von Laura Ford, die so vielseitig zum Spielen anregen. Mit den Gedanken im Kopf oder direkt auf der Wiese in darstellendem Spiel zwischen den fünf riesigen Katzen-Mensch-Irgendwas-Figuren, die scheinbar ruhelos grübelnd ihre Runden im gebeugten Gang drehen. 2013 haben sie die Biennale bereichert, ein paar Jahre später sind sie Teil des Skulpturenparks geworden, der noch wachsen und sich verändern soll. Der berühmte englische Künstler David Nash ist schon dort angekommen mit seinem „Iron Dome“, Masayuki Koorida ist mit mehreren Werken vertreten, die vor vier Jahren verstorbene polnische Künstlerin Magdalena Abakamovicz hat mit ihren „Ten Seated Figures“ ein künstlerisches Vermächtnis in der Kurstadt hinterlassen, das den Betrachtern immer wieder Rätsel aufgibt. Wie sie da sitzen, die zehn Figuren aus Eisenguss, kopflos, armlos, nicht Mann noch Weib, auf ihren eiskalten dürftigen Hockern aus Eisen im Halbkreis, auf den die Nachmittagssonne so schön scheint.

!Der Gustavsgarten zwischen Tannenwaldallee und Mariannenweg ist ganzjährig geöffnet, bis Ende Oktober täglich von 9.30 bis 22 Uhr. Alle anderen beschriebenen Werke sind im öffentlichen Raum immer zugänglich.

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