Kein Hölderlin nirgends, Hölderlin überall

Wo Hölderlin einst in sein geliebtes „Wiesenthal“ spazierte, erinnert ein Denkmal seit 1883 an den Dichter, dessen Leben ein ewiger Wechsel aus Lieben und Leiden bestimmte. An schönen Tagen lassen sich Spaziergänger im Kurpark am Schwanensee gerne bei ihm nieder. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Bad Homburg. Friedrich Hölderlin Superstar! Zum 250. Geburtstag wollte die Kurstadt einen ihrer prominentesten temporären Bewohner in Vielfalt ehren und würdigen. Dutzende Veranstaltungen, „Wir feiern Hölderlin“, heißt es plakativ auf großen Bannern. Und nun? Kein Hölderlin nirgends (wegen Corona) und doch (trotz Corona) Hölderlin überall. Wer ihn sucht und ein wenig Phantasie bewahrt hat, findet den Geist des Verfassers so wunderbarer Lyrik an vielen Orten vor allem in der inneren Stadt. Und kann sich seinen eigenen Weg durch das Hölderlin-Netz suchen.

Ja natürlich, auch im Netz ist der Herr Hölderlin präsent. Damit jene Menschen ihm auf der Fährte sein können, die es gewohnt sind, mit Blick auf ein leuchtendes Display die Welt zu erkunden. Er ist einer von uns, das erfahren sie schon auf der Startseite der preisgekrönten App „Bad HomburgGO“ beim Unterpunkt „Hölderlin in Homburg – Auf den Spuren unseres großen Dichters“. Zu 19 Orten führt sie den Infizierten, der sich einmal von der schwärmerisch schwelgenden Lyrik des Mannes aus Lauffen am Neckar hat packen lassen und wissen will, warum es ihn dazu ausgerechnet in den Taunus gezogen hat. Wie das mit der Sehnsucht nach Arkadien und toten griechischen Göttern zusammenpasst. Zweimal für jeweils knapp zwei Jahre, von 1798 bis 1800 und von 1804 bis 1806, weilte Friedrich Hölderlin in Homburg.

Ausstellung geschlossen

Unser großer Dichter, das hört sich gut an. Wir stecken den virtuellen Hölderlin mitsamt Bildern und Ton in die Westentasche und lassen uns ohne App auf der Achse des landgräflich schönen Lebens vom Waldrand hinunter in die Stadt treiben. Zu Hölderlins Zeit im Taunus gab es das Gotische Haus noch nicht, erst 1823 wurde das Lustschloss des Landgrafen Friedrich V. und seiner englischen Prinzessin Elizabeth erbaut, das Grab für des Landgrafen Lieblingspferd Madjar hätte den Dichter bestimmt begeistert. Sein Gedicht „Der Spaziergang“ hängt gedruckt in der Eingangstür im Fenster, das muss reichen in dieser Zeit. Bis zum 30. Juni sollte das Stadtmuseum ein Zentrum der Hölderlin-Verehrung sein, mit einer großen Schau der weltweit größten Sammlung von Hölderlin-Medaillen und -Münzen, Bildern, Geschichten, Originaltexten … Geschlossen!

Geradeaus winkt der Weiße Turm, das Ende der Achse. Rechts im Tannenwald liegt die Villa Wertheimber, mit Hölderlin-Wohnung und Hölderlin-Kabinett. Außerhalb der Stadtmauern im lauschigen Park dürfen ausgewählte Epigonen des Meisters forschen. Nur ein paar Minuten noch zum schönen Landgrafenschloss mit weitläufigem Park. Als Hofbibliothekar bekam der Dichter dort 1804 zu Beginn seines zweiten Besuchs in Homburg einen Ehrenjob. Den Deal, den sein Freund Isaac Sinclair mit dem Landgrafen machte, kannte er nicht. Sinclair übernahm das Gehalt, wollte dem Freund in der anbrechenden schwierigsten Zeit seines Lebens ein Helfer sein. Aus Studienzeiten in Tübingen kannten sie sich, der Theologiestudent Hölderlin und der Rechtswissenschaftler verkehrten dort mit den angehenden Star-Philosophen Hegel und Schelling, entwarfen in Gedanken ein Programm für philosophisch-poetisches Zukunftsdenken. Der smarte Jüngling, durchaus ein Frauentyp, heißt es.

Taugt Hölderlin zum Kultpoeten? Dafür kennen zu wenige seine Verse, ein schwieriger Fall, dieser Johann Christian Friedrich Hölderlin. Eher eine gebrochene Lichtgestalt, ausgerechnet in Homburg ist er dazu geworden. Der Hofapotheker Dr. Georg Friedrich Karl Müller aus der Dorotheenstraße (schön saniert die Nummer 10) hat 1805 das Gutachten über seinen Geisteszustand verfasst, das wenig Hoffnung auf Zukunft machte. Es dauerte nicht mehr lange bis zum Rücktransport in die Heimat unter ärztliche Aufsicht, die Grundzüge der Geschichte über die zweite Lebenshälfte Hölderlins im Turm zu Tübingen ist eher bekannt als seine hohe Dichtkunst. Die Dorotheenstraße aber ein Hotspot im Homburger Leben des Friedrich Hölderlin, im Dunstkreis des Landgrafenschlosses gelegen, des Freundes Isaac von Sinclair und der Menschen, die den schwierigen Geist wertschätzten und nach jeweiligem Gutdünken unterstützten.

Überall im Umkreis von einem Kilometer gibt es Berührungspunkte mit Hölderlin. Das Sinclair-Haus an der Ecke vorm Schloss, das heute gelb gestrichene Wohnhaus mit den grünen Holzläden von Sinclairs Mutter Frau von Proeck (Hausnummer 6) ein paar Schritte weiter unten, die sich oft um den Dichter kümmerte, auf der anderen Seite am Schulberg die Engel-Apotheke, deren Inhaber Hölderlins Einnahmen aus der Bibliothek verwaltete, das alte Pfarrhaus in der Herrngasse, Häuser in der Haingasse, wo Hölderlin 1798 beim Hofglaser einzog, später dann bei einem Sattlermeister, ehe man ihn dort „abholte“, weil kein Umgang mehr mit ihm möglich war. Die Hölderlin-Grundschule am Hessenring lassen wir mal rechts vom Schlosspark liegen, sie wie auch der Hölderlinpfad zwischen Jubiläumspark und Hardtwald hinter der Baumstark-Klinik ein Zeichen der Ehrerbietung. Die Schlosskirche im Schatten des Weißen Turms müssen wir natürlich streifen. Am Eingang zur Fürstengruft die Bronzeplatte mit dem Anfang der berühmten „Patmos-Hymne“, aus der zumindest der zweite Satz vielen bekannt sein dürfte: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Die Schlosskirche ist seit 2017 Schauplatz der Vergabe des renommierten Friedrich-Hölderlin-Literaturpreises der Stadt Bad Homburg. Die Verleihung am 7. Juni abgesagt wie all die anderen Highlights auch, am 1. November soll sie nun stattfinden.

Der Hölderlinpfad

Der Frauentyp und Landschaftsträumer soll auch ein exzessiver Geher gewesen sein. Gute Idee, ihn mit einem Wanderweg zu ehren, passend, dass dafür die 22 Kilometer gewählt wurden, die eine existenzielle Bedeutung für den Mann des geschliffenen Wortes hatten. Von der Südseite des Schlosses am Sinclair-Haus beginnend, führt der „Hölderlinpfad“ nach Frankfurt bis zum Goethehaus. Einen Moment wollen wir aber noch verweilen am Hölderlin-Denkmal von Baumeister Louis Jacobi aus dem Jahr1883, im Kurpark unweit vom Schwanensee, wo es für Hölderlin in das geliebte „Wiesenthal“ ging. Die meisten Spaziergänger lassen den Superstar 2020 je nach Richtung links oder rechts liegen. Hölderlin? Wer bitte? „Ein Sohn der Erde / bin ich, / zu lieben gemacht, / zu leiden.“ Sagt er über sich im Gedicht „Die Heimath“.

Jeden ersten Donnerstag im Monat soll Friedrich Hölderlin nach Frankfurt zu seiner geliebten, überirdisch verehrten „Diotima“ gepilgert sein, das besondere „Wesen auf dieser Welt, woran mein Geist Jahrtausende verweilen kann und wird“. Groß, durchaus kräftig, breitschultrig und robust, nicht zartgliedrig, scheu und vergeistigt, wird er auch beschrieben. Drei Stunden hin, drei Stunden zurück, 44 Kilometer zum Austausch von Liebesbotschaften, da braucht es neben strammen Waden ein übervolles Herz. Aber diese Geschichte über die unmögliche Liebe zur Bankiersgattin und vierfachen Mutter Susette Gontard kennen ja alle, und der Weg heute ist mit dreifacher Überquerung von A661 und A5 längst nicht so lauschig wie um die Wende zum 19. Jahrhundert. Was nicht jeder im Corona-Jahr weiß, auch Hölderlin war mit einer hochinfektiösen Virus-Erkrankung konfrontiert gewesen. Die große, unglückliche Liebe seines Lebens, der er so schöne Liebesgedichte gewidmet hat, steckte sich bei ihren Kindern mit Röteln an und starb daran 1802 im Alter von 33 Jahren.

Weitere Artikelbilder



X