„Kleine Schriften“ geben Anstoß zum Nachdenken

Ein auch angesichts der Corona-Pandemie für „mündige Christen“ aktuelles Thema: Wie hat sich das Abhängigkeitsverhältnis von Kirche und Staat durch die Jahrhunderte entwickelt? Dieser Frage geht Pfarrer i. R. Alexander von Oettingen (l.) anhand lokaler Fakten in einem neuen Band der Schriftenreihe der Erlöserkirche nach, den er gemeinsam mit Archiv-Mitarbeiterin Ute Jaeger und Pfarrer Andreas Hannemann (r.) vorstellt. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). Das Verhältnis von Thron und Altar war schon immer kompliziert – im großen Maßstab zwischen Landeskirchen und weltlicher Obrigkeit und im kleinen Maßstab zwischen christlicher Ortsgemeinde und Landesherr. Wer beeinflusst wen, wer finanziert wen? Seit der Reformation ab 1517 ringt besonders die evangelische Kirche mit ihrem Selbstverständnis, Abhängigkeiten und Freiräumen innerhalb des säkularen Gemeinwesens. Auch heute noch hängen die evangelische Kirche und der säkulare Staat zusammen: etwa im sozialen und kulturellen Bereich, beim Einzug der Kirchensteuer durch den Staat oder durch die sogenannten Staatsleistungen des Staates an die Kirche, über deren Abschaffung derzeit diskutiert wird.

In der Reihe „Kleine Schriften der Erlöserkirche“ hat Pfarrer i. R. Dr. Alexander von Oettingen dieses Thema der gegenseitigen Abhängigkeit im neu erschienenen 5. Band „Unterwegs in der Geschichte“ heruntergebrochen auf die lokale Ebene. Bei der Vorstellung der neuen Schrift durch den Verfasser von Oettingen, Pfarrer Andreas Hannemann von der Erlöserkirche und der Archiv-Leiterin Ute Jaeger wurde deutlich: Die geschichtlich fundierten Darstellungen geben Anstoß, sich selbst Gedanken zu machen über das Christsein in der Gesellschaft.

Was sagen eigentlich die evangelischen Kirchenverfassungen im Geltungsbereich (Bad) Homburg seit der Reformation über das Verhältnis von Thron und Altar? Warum, wieviel und wofür zahlte der Staat seit dem 19. Jahrhundert Geld an die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau und welche Ansprüche der Kirche werden damit abgegolten? Wie sah das Verhältnis von Christentum und Nationalismus im deutschen Kaiserreich aus, und an welchen Punkten förderte der Erbauer der Bad Homburger Erlöserkirche, Kaiser Wilhelm II., im Ersten Weltkrieg die Friedensarbeit der Kirche, und wo versagte er? Diesen Fragen geht Pfarrer Alexander von Oettingen, 1998 bis 2013 Pfarrer an der Erlöserkirche, Jurist und jahrelang theologischer Beisitzer des kirchlichen Verfassungsgerichts der EKHN, in drei Kapiteln nach. Dabei stützt er sich auf das einzigartig umfangreiche Archiv der Erlöserkirchengemeinde und die Zusammenarbeit mit Ute Jaeger, die dieses seit mehr als zehn Jahren betreut und aufarbeitet.

Von oben nach unten

Im Kapitel über die Kirchenverfassungen geht von Oettingen bis zur Kirchenordnung unter Philipp dem Großmütigen von Hessen in der Reformationszeit zurück – „Martin Luther wollte die Kirche von unten“ – und schlägt den Bogen über die 1835 verfasste rheinische Kirchenordnung bis zur aktuellen Kirchenverfassung der EKHN: Immer hätte die Finanzverfassung Probleme bereitet, „und letztlich hat sich dabei das Prinzip von oben nach unten durchgesetzt, die Bedeutung der unabhängigen Ortsgemeinde, wie Luther sie wollte, konnte nicht verwirklicht werden“, so von Oettingen. Pfarrer Hannemann gab zu bedenken, die Ideologieanfälligkeit der Kirche habe damit zu tun: „Bis zum Ersten Weltkrieg hatten die Landesherren zwar darauf geachtet, dass das kirchliche Leben im geistlichen Sinne unabhängig war, aber insgesamt wollten sie die volle Kontrolle haben.“

Wer weiß schon, dass Preußen 1871 wegen der Verarmung vieler Kirchengemeinden durch die Industrielle Revolution den kirchlichen Gremien die Erlaubnis erteilte, Steuern einzunehmen? Dass die Kirchen in Hessen und Nassau um die finanzielle Unabhängigkeit gerade im Blick auf die Pfarrer-Gehälter rangen – aber bis ins 20. Jahrhundert hinein Kirchenverwaltung und Konsistorien der Kirche als Teil der Staatsverwaltung begriffen wurden und Superintendenten bis 1918 als Staatsbeamte vom Staat alimentiert wurden?

Im Kapitel über die umstrittenen „Staatsleistungen“ an die Kirche werde deutlich, dass die evangelische Kirche „die Partnerschaft zum Staat auch heute beibehalten will“, so von Oettingen. Für die Erlösergemeinde machte Pfarrer Hannemann deutlich, „dass wir uns derzeit als Ortsgemeinde nicht direkt einmischen wollen in die aktuellen Verhandlungen der Landeskirche mit dem Staat“. Dabei, so gab von Oettingen zu bedenken, sei die Erlöserkirche früher einmal die einzige Gemeinde im Lande gewesen, die für eine ortskirchliche Steuer und gegen die landeskirchliche Steuererhebung plädiert hatte. Bei den strittigen Staatleistungen nun gehe es um 2,7 Prozent des Gesamthaushalts der EKHN: „Es ist kein Betrag, bei dem die Kirche fällt.“ Dass sich Kirche immer auch inhaltlich gegenüber dem Staat positionieren musste, wird im Kapitel „Friedens- und Freundschaftsarbeit im deutschen Kaiserreich“ anhand vieler Fakten und der Person Kaiser Wilhelm II. beschrieben.

Dieser hatte die im 19. Jahrhundert entstandene internationale, maßgeblich vom christlichen Bürgertum bis hin zu höchsten Kreisen getragene Friedensbewegung – aus der 1948 der Ökumenische Rat der Kirchen hervorging – „bemühend mitgetragen“, so die These Pfarrer von Oettingens. Teile des kaiserlichen Hofes seien protestantisch sehr aktiv gewesen. „Der Kaiser war guten Willens, doch ein innerlich zerrissener Mensch, der seinem Amt charakterlich nicht gewachsen war“, resümierte Andreas Hannemann. Das führe unweigerlich zu der Frage, „ob Politiker heute richtiges Einschätzungsvermögen und Weisheit haben. Dabei gibt es Missglücktes und Geglücktes in der Politik. Politiker sollten Demut üben“, so der Pfarrer der Erlöserkirche.

!Der Band „Unterwegs in der Geschichte“ von Alexander von Oettingen in der Reihe Kleine Schriften der Erlöserkirche (Heft 5, 108 Seiten, fünf Euro) kann im Gemeindebüro der Erlöserkirche, Dorotheenstraße 3, Telefon 06172-21089, erworben werden.



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