„Krebsgeflüster im Kinosaal“

Zwischen Bücherregal und Bühnenlicht – Marie Bäumer liest nicht nur, sie verzaubert. Fast schade, dass die Flusskrebse nicht applaudieren konnten. Foto: nl

Bad Homburg (nl). Manchmal beginnt Literatur mit einem Wackelkontakt. Es war genau 19 Uhr, als Marie Bäumer auf der Bühne des gut gefüllten Kinosaals stand – bereit, „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens für das Bad Homburger Poesie- und Literaturfestival zum Leben zu erwecken – und das Mikrofon… schwieg. Ein kurzer Moment Stille, ein Räuspern hier, ein kicherndes Hüsteln da. Technik eben.

Doch Marie Bäumer ließ sich nicht beirren. Als das Mikrofon dann endlich funktionierte, trat sie mit einem schelmischen Grinsen einfach noch einmal auf – als sei jetzt erst Showtime. Das Publikum dankte es ihr mit herzlichem Applaus. Es war ein charmanter Neustart für eine eindrucksvolle Lesung, die ganz ohne Kitsch, dafür mit viel Gespür für Sprache, Bilder und Atmosphäre auskam.

Im Rahmen des Festivals wurde der Kinosaal zur Bühne für Natur, Klang und Schmerz. Zwischen den Lesepassagen tauchten auf der Leinwand stimmungsvolle Naturfotografien auf – Nebel, Sümpfe, Lichtreflexe auf Wasser. Dazu kurze Musiksequenzen, dezent eingespielt, wie ein Flüstern im Hintergrund, nie aufdringlich. Es war eine Art poetisches Surround-Erlebnis – Kino für die Seele.

Marie Bäumer las mit feiner Intensität. Ihre Stimme tastete sich vorsichtig an die sensiblen Stellen des Textes heran, um sie dann, an entscheidenden Momenten, mit eindrucksvoller Dramatik aufzuladen. Als Kya, die Protagonistin, von ihrer Mutter verlassen wird – ohne Erklärung, ohne Abschied – wurde es still im Saal. Bäumer las diese Szene mit so viel Zurückhaltung und Tiefe, dass man spürte, wie der Verlust sich in jede Faser des Mädchens fraß.

Später, als Kya sich gegen den Versuch einer Vergewaltigung wehrt, wurde ihre Stimme schärfer, drängender, fast zornig – und genau dadurch stark. Und schließlich, in der Gerichtsverhandlung, als Kya vor einem Geschworenengericht steht, angeklagt wegen Mordes, gelang Bäumer eine Balance aus Spannung und Verletzlichkeit. Die Szene, in der Kya freigesprochen wird, klang wie ein leiser Aufschrei: nicht triumphierend, sondern erleichtert.

Das Publikum hörte aufmerksam und mit spürbarem Interesse zu. Man hatte das Gefühl, dass jeder Satz Raum bekam, sich zu entfalten. Ein gemeinsames Lauschen, das selten geworden ist – konzentriert, offen und ganz bei der Sache.

Ein kleiner Höhepunkt am Rand: Die Szene, in der Kya lernt, Tiere und Menschen nur nach dem zu beurteilen, was sie tun. Eine Weisheit, die in der Geschichte mehrfach ihre Gültigkeit beweist, und die an diesem Abend fast beiläufig in den Raum gestellt wurde – wie eine Einladung, genau hinzusehen.

Manchmal braucht es nicht viel – eine klare Stimme, ein gutes Buch, ein paar Bilder, die mehr andeuten als zeigen – und schon entsteht ein Abend, der leise beeindruckt. Marie Bäumer hat mit Feingefühl und Präsenz gezeigt, wie viel Leben in Literatur stecken kann, wenn sie Raum bekommt zu wirken. Kein Spektakel, kein großer Auftritt – aber eine Lesung, die in Erinnerung bleibt. Nicht zuletzt, weil man danach plötzlich Lust hat, barfuß durch einen Sumpf zu laufen – oder zumindest mal wieder ein Buch in die Hand zu nehmen.



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