Im Leerraum zwischen Realität und Irrationalität

Musikalisch wird Christian Berkel in der Erlöserkirche vom Bachchor unterstützt, den Susanne Rohn dirigiert. Foto: Vero Bielinski

Bad Homburg (ks). Franz Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ ist ebenso faszinierend wie verstörend. Es brauchte eines Interpreten wie Christian Berkel, dieser „kafkaresken“ Erzählkunst gerecht zu werden und dafür zu sorgen, dass sich die Zuhörer in der ausverkauften Erlöserkirche hineinziehen ließen in den Bericht des Bankangestellten Josef K., dem der Prozess gemacht wird.

K. wird am Morgen seines 30. Geburtstags von zwei Wächtern verhaftet, die ihre Namen nicht nennen und ihm auch nicht sagen, wessen er angeklagt ist. Der Gericht agiert im Geheimen, einen Ankläger gibt es nicht. Aber K. kann sein Leben wie bisher weiterführen, und Kafka (1883-1924) macht den Zuhörer zu dessen „Begleiter“ auf einem Weg, auf dem K. in seinem privaten und beruflichen Lebensbereich ergründen will, was es mit seiner Verurteilung auf sich hat. Er hat so wenig eine Wahl wie K. selbst, dem vom Autor entworfenen Leerraum zwischen Realität und Irrationalität zu entrinnen, wo Ängste und Unsicherheit zuhause sind.

In dieser lebensfeindlichen bürokratischen Welt ist der Mensch zur „anonymen Größe“ geworden, der man keine Rechenschaft schuldet. Christian Berkel ist diesem „Sog“ einfühlsam und in gut dosierter „Dramaturgie“ gefolgt und hat die Spannung aufrechterhalten. Aber auch diesmal haben die Zuhörer vergeblich auf Auflösung und Erklärung gehofft. Kafka hält sie nicht bereit. Viele berühmte Autoren und Philosophen haben sich an einer Deutung versucht, um am Ende zu akzeptieren, dass sich Kafka einer solchen entzieht.

Zwischen 1914 und 1915 entstanden und unvollendet geblieben, sagt man diesem „berühmten“ Werk von Kafka nach, dass es eng mit seiner eigenen Lebenssituation verbunden sei. Franz Kafka, in Prag geboren, jüdischer Herkunft und promovierten Jurist, musste die Auflösung seiner Verlobung mit Felice Bauer hinnehmen und einer ungeliebten Arbeit nachgehen, die seinem Traum von einem „freien Schriftstellerleben“ im Wege stand. Von seinem Studium her hatte er einen guten Einblick in die Gerichtsbarkeit und die Tatsache, dass „Recht“ nicht mit „Gerechtigkeit“ gleichzusetzen ist. Man hat dem Roman auch nachgesagt, dass der Autor die Machenschaften und Rechtsbrechungen der totalitären Regime in Russland und Deutschland vorweggenommen habe. Dieser Deutung muss man nicht folgen. In dem Werk könnte man eher eine Parabel für den „Prozess des Lebens“ sehen, in den der Mensch hineingeworfen wird. Er muss sich dem „Unerwarteten“ stellen – auch wenn er es nicht begreift und auch nicht akzeptieren möchte. Dass K., resigniert und frustriert, am Ende fast freiwillig seine Ermordung hinnimmt, korrespondiert wohl mit Kafkas eigenem Lebensgefühl und auch mit dem einer Generation, die 1914 in einen Krieg hineingezogen wurde und nicht frei über das eigene Leben entscheiden konnte.

Mit Mozarts „Requiem“

Das wohl „Kunstvollste“ in Kafkas Erzählkunst ist der Gegensatz zwischen der detaillierten Beschreibung eher nebensächlicher Ereignisse und der Nüchternheit des eigentliches Themas. Berühmt wurde die Parabel vom Türhüter, der vor dem Gesetz steht, den Mann vom Land aber nicht einlässt und ihn belehrt, dass er noch warten müsse. Der Mann gibt den Versuch auf Einlass schließlich auf und lässt sich vor dem Tor zum Gesetz nieder. Dort wartet er Tage und Jahre vergeblich.

Kantorin Susanne Rohn hatte als musikalische Begleitung zur Lesung mit Auszügen aus Mozarts „Requiem“ eine einfühlsame Wahl getroffen. Sie passte auch zum Schicksal des Autors, der an Kehlkopftuberkulose erkrankte und mit nur 41 Jahren gestorben ist. Der Bachchor sowie Solisten und Orchester TBA haben unter ihrer engagierten Leitung auch ihren Part großartig bewältigt.

Am Ende gab es stehende Ovationen für Christian Berkel, den Chor, die Solisten und das Orchester für diesen fulminanten Ausklang des Jubiläums zum zehnjährigen Bestehen des Poesie- und Literaturfestivals.

Weitere Artikelbilder



X