„Mitmacher, nicht Miesmacher“ benötigt

„Unser Deutschland ist ein kerngesundes Land, wir haben allen Grund zur Dankbarkeit!“ Professor Dr. Bernhard Vogel ist der Einladung der neugegründeten Stiftung „Kirche in der Stadt“ der Erlöserkirchengemeinde und von Oberbürgermeister Alexander Hetjes gefolgt und spricht beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit (v. l.): Dr. Hauke Christian Öynhausen, Vorstand der Stiftung, Professor Dr. Bernhard Vogel, Kirchenvorstands-Vorsitzende Petra Kühl, OB Alexander Hetjes und Pfarrer Andreas Hannemann. Foto: a.ber

Von Astrid Bergner

Bad Homburg. „Für eine Schlussbilanz ist es zu früh“: Mit diesen Worten ermutigte Professor Dr. Bernhard Vogel beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in der Erlöserkirche die zahlreichen Anwesenden, die Wiedervereinigung Deutschlands nicht als abgeschlossenen Prozess abzuhaken, sondern weiter als Herausforderung anzunehmen. Die Einheit des Landes könne nur gelingen, wenn sich in der Demokratie Mutmacher engagierten: „Wir wollen keine Gleichmacherei, aber vergleichbare Lebensbedingungen in allen Bundesländern“, sagte der 1932 geborene CDU-Politiker.

Vogel sprach auf Einladung der neugegründeten Stiftung „Kirche in der Stadt“ der evangelischen Erlöserkirchengemeinde zum Thema „Denk ich an Deutschland – Herausforderung 3. Oktober“. Im Anschluss an den Festakt, der in Kooperation mit der Werner-Reimers-Stiftung und der Stadt Bad Homburg stattfand, diskutierte Professor Bernhard Vogel mit den Gymnasiasten Josefine Reichstein vom Martin-Luther-Gymnasium Eisenach und Marius Crüger von der Humboldtschule Bad Homburg über die Bedeutung des 3. Oktober und gesellschaftliche Herausforderungen.

Als einen Experten in Sachen Wiedervereinigung bezeichnete Oberbürgermeister Alexander Hetjes den 88 Jahre alten CDU-Politiker Bernhard Vogel. 1976 bis 1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und nach der Wende 1992 bis 2003 Ministerpräsident des Freistaats Thüringen gewesen, fordere Vogel immer wieder „ein Ende des Schubladendenkens in ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘“, so Hetjes. Der Festredner selbst schilderte pointiert und humorvoll die Herausforderung, „dass ich zweimal Ministerpräsident war, in einem westlichen und einem östlichen Bundesland, eine besondere Situation, die sich nie wiederholen möge. Ich möchte ein Unikat bleiben.“

Bernhard Vogel erinnerte an die dramatischen historischen Ereignisse um den 9. November 1989: Mit Angst im Herzen und Kerzen in den Händen hätten Bürger der DDR, unterstützt von den Kirchen, die Freiheit gegenüber dem SED-Regime gefordert und friedlich errungen und das vollendet, was im Widerstand der polnischen Werftarbeiter in Danzig seinen Anfang genommen habe und im Geiste von Glasnost und Perestroika durch die Entscheidung des Sowjet-Präsidenten Michail Gorbatschow gegesn ein militärisches Eingreifen gelungen sei. Sein eigenes Wirken nach der Wahl zum thüringischen Ministerpräsidenten 1992 bezeichnete Vogel als „das größte Abenteuer meines Lebens“: „Es gab keinen Plan für die Wiedererrichtung der Bundesländer im Osten, Verwaltungen, Rechtsprechung, Schulwesen, Wirtschaft, alles musste neu aufgebaut werden. In Ostdeutschland gab es nach 60 Jahren Diktatur niemanden mehr, der auf eigene demokratische politische Erfahrung zurückgreifen konnte. Den Männern und Frauen ohne Erfahrung, die damals politische und andere Aufgaben übernahmen, sollte man ein Denkmal setzen, genauso wie denen zu danken ist, die vom Westen kamen und bereit waren zu helfen.“ Natürlich hätte es Fehlentscheidungen und „schwarze Schafe“ gegeben. „Aber wir haben allen Grund zu wechselseitiger Dankbarkeit.“

Erinnern und ermutigen

Bernhard Vogel korrigierte die irrige Annahme, der Dichter Heinrich Heine habe mit den Versen „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht“ negativ über sein Vaterland reden wollen. Abgesehen davon, dass Heine aus der Ferne mit diesen Worten seiner todkrank in Deutschland darniederliegenden Mutter gedacht habe, sei das negative Denken über Deutschland heute verfehlt: Angesichts der immensen aktuellen Herausforderungen in der Welt, der Bedrohung der Demokratie weltweit und der gesellschaftlichen und politischen Probleme im eigenen Land sei „der 3. Oktober ein Tag der Erinnerung und der Ermutigung. Wachsamkeit tut not, aber Deutschland ist ein kerngesundes Land! Seid ins Gelingen verliebt und nicht ins Scheitern!“

Dr. Hauke Christian Öynhausen, Vorstand der Stiftung „Kirche in der Stadt“, moderierte die Podiumsdiskussion zwischen Bernhard Vogel und zwei Gymnasiasten aus Ost- und Westdeutschland. Die 18-jährige Schülersprecherin Josefine Reichstein aus Eisenach und der 17-jährige Schülersprecher Marius Crüger aus Bad Homburg stimmten in ihrer Kritik überein, dass nach den aktuellen Lehrplänen für Schulen viel zu wenig über die jüngere Geschichte Deutschlands gelehrt werde: „Ich weiß mehr über das alte Ägypten als über meine eigene Geschichte“, so Josefine Reichstein. „Wir selbst haben nicht für Deutschlands Einheit gekämpft, aber wir sollten wissen, warum der 3. Oktober so viel für uns bedeutet“, sagte die Schülerin, die kritisch aus ihrer Sicht soziale Aspekte, Kommunikationsschwierigkeiten zwischen alten und neuen Bundesbürgern sowie das West-Ost-Gefälle in der EU und die gespannten Beziehungen Deutschlands zu Russland anmahnte. Marius Crüger sprach die emotionale Ebene der Wiedervereinigung von Ost und West an: „Leider verspüre ich diese Emotionen nicht, von denen mir meine Großmutter in Erinnerung an die Tage der Friedlichen Revolution erzählt. Zu wissen, wie es war, und zu wissen, wie es sich angefühlt hat, sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.“

Der CDU-Politiker forderte die Gymnasiasten auf, ihre Kritik an den Lehrplänen vorzubringen. „Es ist eure Gegenwart“, so Vogel. „Die Demokratie braucht Mitmacher, nicht Miesmacher.“ Auf die Frage Öynhausens, was wir heute noch aus dem Prozess der Wiedervereinigung lernen könnten, nannten die Jugendlichen beide den Aspekt der friedlichen Revolution, „dass eine bessere Zukunft nicht durch Gewalt erreicht werden kann und ein System, das nicht auf dem Willen der Mehrheit basiert, keinen Bestand haben kann“, so Marius Crüger. Der erfahrene Politiker Vogel sagte, es lohne sich, für den Staat mit seinem Grundgesetz einzutreten, zu dem auch der Gottesbezug gehöre.

Die im Erntedank-Gottesdienst am Morgen des 3. Oktober gegründete „Stiftung in der Stadt“, die mit dem Festakt ihre erste Veranstaltung organisierte, habe damit als Kirche ein Forum für Menschen geboten, die Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen, so Pfarrer Andreas Hannemann von der evangelischen Erlöserkirche. Wie vor der Wende in der DDR, könne Kirche auch heute und hier „ein Ort sein, an dem Menschen Kraft bekommen, sich mutig für das Gemeinwesen einzusetzen.“ Die neue kirchliche Stiftung will als aktiver Bestandteil des Bad Homburger Stadtlebens wirken und das Leitbild für ein friedliches, christlich geprägtes Miteinander stärken sowie nachhaltige Projekte finanzieren und die Jugendarbeit der Kirchengemeinde fördern, hieß es bei der Gründungsveranstaltung. Mit einem vom Kronenhof eigens gebrauten „Stiftungsbier“ und Thüringer Bratwurst klang die Veranstaltung auf dem Platz vor der Erlöserkirche aus.

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