Bad Homburg (a.ber). „Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Mit diesen Worten brandmarkte der englische Schriftsteller George Orwell im Vorwort zu seinem Buch „Farm der Tiere“ (Animal Farm) die Pressezensur in England im Jahr 1945 – die Unterdrückung kritischer Äußerungen über den damaligen Alliierten Sowjetunion durch die britische Regierung und die Versuche ihres Informationsministeriums, die Veröffentlichung von Orwells Fabel über das Entstehen von Diktaturen zu verhindern.
Vier Verleger hatten die Story von Farmer Jones und der Rebellion seiner Tiere, die die Herrschaft auf dem Hof übernehmen und dann ihrerseits nach und nach ein autokratisches Regime errichten, abgelehnt. Schließlich erschien „Farm der Tiere“ doch – aber ohne das kritische Vorwort. Bezug zur Gegenwart? Lieber nicht. In der DDR war die Lektüre bis 1989 verboten. Beklemmend aktuell und universell ist aber auch heute George Orwells literarischer Weckruf. Das spürten mehr als 100 Zuhörer, die im Steigenberger Hotel der Lesung von Katty Salié und Max Moor folgten. Das 13. Bad Homburger Poesie- und Literaturfestival bot an diesem Abend die Gelegenheit, über Demokratie und das Abrutschen ihrer Akteure in korrumpierende Machtstrukturen nachzudenken.
Die aus dem ZDF-Kulturmagazin „aspekte“ bekannte Fernseh-Moderatorin Katty Salié, seit Jahren auch Botschafterin der „Stiftung Lesen“, und der Schauspieler, Autor und langjährige ARD-Fernsehmoderator der Kultursendung „titel, thesen, temperamente“, Max Moor, zogen mit feinem Gespür für Stimmen- und Stimmungsänderungen der in der Fabel agierenden Figuren das Publikum in den Bann der Geschichte. Einer Geschichte, die nie Historie wird, sondern sich immer wieder ereignen kann: Der Ruf nach Freiheit von Diktatur, das Abwerfen des Jochs der Willkür und die Schaffung von Mit- und Selbstbestimmung in einer Gesellschaft sind Erfahrungen, die wertvoll und wichtig sind und dennoch nicht zuverlässig vor der Wiederkehr des „Machtvirus“ in mutierter Gestalt schützen. „Der Mensch ist unser einziges wirkliches Problem!“, lässt George Orwell (1903-1950) den Visionär unter den Schweinen der Farm, Old Mayor, sagen. Max Moors beeindruckende Rezitation der blöde blökenden Schafe, „Zwei Beine schlecht, vier Beine gut!“ und dessen Verkehrung, steigerte sich im Verlauf der Allegorie über Personen und Ereignisse der jungen Sowjetunion wie ein Mantra: Bauchgefühl und Erinnerungsvermögen des Tiervolkes – das Sozialismus träumt und Kommunismus (Animalismus) bekommt – werden eingelullt, manipuliert und zerstört; und heraus kommt die Gewaltherrschaft des Stalinismus, die Herrschaft der Schweine unter ihrem Anführer Napoleon.
Katty Salié las mit hochgezogenen Augenbrauen und spitzfindig von „seidenen Kleidern, Radioapparaten und Peitschen“, den Insignien der neuen Machthaber, deren Lügen sich in den Gehirnen festsetzen.
George Orwell taucht in „Farm der Tiere“ tief ein in das Gewebe der Diktatur. Beklemmend aktuell: Getreidemangel, Energiemangel. Die Schweine kollaborieren mit den bösen Menschen auf der Nachbarfarm, um sich die Weizenernte zu sichern, verjagen den Ideengeber einer Windkraftanlage und bauen seine Idee zur Ideologie aus; der „Führer“ Napoleon zieht sich, militärische Gewalt demonstrierend und bald auch seinen Gefolgsleuten misstrauend, in den Palast zurück; Propaganda ersetzt Kommunikation. Den Schweine-Oligarchen geht’s gut, das Volk darbt. „Von Luxus und elektrischem Licht war nicht mehr die Rede“, rezitierte Katty Salié. Gewaltherrschaft Nationalsozialismus, Sowjetunion, DDR? Autokratie in Russland, Katar, China, Iran? Oder doch schon auch wir, unsere Gesellschaft, in der die Droge des Korrekten Denkens gern genommen wird und die Farbvielfalt von Leben und Denken manchen als Bedrohung erscheint? Das fast bittere Hohngelächter, das an einigen Stellen der Lesung aus der Zuhörerschaft erklang, zeigte den Rezitatoren Max Moor und Katty Salié ebenso wie den Veranstaltern des Poesie- und Literaturfestivals: Es gibt wache Menschen, die aufmerken, wenn einer wie Orwell „den Leuten das sagt, was sie nicht hören wollen“. Literatur und Kunst sind unverzichtbar in verwirrenden Zeiten.