„Die Russen wollten an uns ein Exempel statuieren“

Der Schüler Klaus Adlung, 15 Jahre alt, zwei Monate vor seiner Verhaftung durch die Sowjets im Dezember 1945. Repro: Bergner

Von Astrid Bergner

Bad Homburg (hw). Im Jahr 2020 wird in Deutschland des Kriegsendes vor 75 Jahren und der Befreiung von der Diktatur des Nationalsozialismus gedacht. Millionen Menschen jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens wurden Opfer einer brutalen und menschenverachtenden Herrschaft. Für die Überlebenden des Holocaust bedeutete der 8. Mai 1945 das Ende schrecklicher Erfahrungen, die sie freilich ihr ganzes Leben lang weiter begleiten und prägen sollten. In Bad Homburger Schulen haben einige von ihnen als Zeitzeugen immer wieder von ihren persönlichen Schicksalen erzählt. Dafür gebührt ihnen großer Dank. Weniger bekannt ist, dass direkt nach Kriegsende Menschen in Deutschland in die Fänge einer weiteren Diktatur gerieten: Im Mai 1945 richtete die russische kommunistische Besatzungsmacht im Osten Deutschlands sowjetische Speziallager für „Kriegsverbrecher“ und „Konterrevolutionäre“ ein. Die Besatzer, die in ostdeutschen Städten das politische System des Kommunismus mit allen Mitteln etablierten, in den Kellern ihres Geheimdienstes Bürger folterten, übernahmen zum Teil ehemalige NS-Konzentrationslager, wo sie ihre Gefangenen drangsalierten, erschossen oder verhungern ließen. 1950 überstellten die russischen Besatzer überlebende Gefangene dann einer weiteren Diktatur: In DDR-Gefängnissen saßen noch jahrelang Menschen ein – darunter auch viele unschuldige junge Menschen, wie die Geschichte des Bad Homburgers Klaus Adlung zeigt.

Ein Schicksalstag

Im Mai 1945, bei Kriegsende, zogen russische Soldaten in Wittenberge ein. In der Nacht kamen die Kosaken mit Pferdegetrappel, am nächsten Tag weitere Russen mit Pferdewagen in die Stadt im Nordwesten Brandenburgs; eine Militärkapelle spielte das Lied „Rosamunde“. Für den 15 Jahre alten Gymnasiasten Klaus Adlung war das ein Schicksalstag. Seine Mutter war drei Monate vor Kriegsende gestorben, der Vater, ein Bahnbeamter, gerade in englische Kriegsgefangenschaft geraten. Klaus Adlung und seine Schwester hielten sich in den folgenden Monaten irgendwie über Wasser, die Mietwohnung teilten sie mit einer Flüchtlingsfamilie und einem KZ-Überlebenden. Der Jugendliche begann eine Tischlerlehre, wurde jedoch von seinem Meister im Oktober 1945 auf das wiedereröffnete Gymnasium zurückgeschickt. Inzwischen hatte die russische Besatzungsmacht das kommunistische System politisch etabliert und nötigte die Schüler Wittenberges zur Mitgliedschaft in der Kommunistischen Jugend.

Klaus Adlung wehrte sich wie viele seiner Kameraden gegen diese Nötigung: kein Sportverein, kein Besuch im Schwimmbad ohne Mitgliedschaft in der Antifa? Und der Leiter der neuen Antifa-Jugend auch noch der frühere HJ-Führer Werner Boost? Bald schloss sich eine Gruppe von Mädchen und Jungen zusammen, die sich an dem Westler Günter Schulz orientierten, der ihnen von demokratischen Organisationen im westlich besetzten Deutschland erzählte. „Auf unseren Treffen wurden zu keinem Zeitpunkt verschwörerische oder militante Absichten gehegt, es gab weder Waffenansammlungen noch Anwendung von Nazi-Symbolen“, erinnert sich der heute 89-jährige Klaus Adlung. Ab und zu hängten die Jugendlichen Plakate mit demokratischen Gedanken in den Schulen auf, die wieder abgerissen wurden.

Trotzdem nahm das Verhängnis seinen Lauf: Im Dezember 1945 begannen die Verhaftungen, 27 Jungen und vier Mädchen sowie zwei Mütter wurden von den Sowjets in den Kommissariaten der Geheimpolizei (NKWD) inhaftiert. „Ich wurde am frühen Morgen des 30. Dezember von Polizisten aus dem Bett geholt. Meine Schwester war noch beim nächtlichen Hamstern. Hinter mir auf der dunklen Straße hörte ich Schritte: Da wurde meine Schulfreundin abgeführt.“ Dass der kluge und sensible Junge erst acht Jahre später wieder die Freiheit erlangen sollte, ahnte er damals noch nicht. Es folgten nächtliche Einzelverhöre mit schweren Prügeln in einem GPU-Keller in Brandenburg. „Ich lag mit nacktem Oberkörper auf einer Pritsche, hörte die Schreie der Geprügelten, über mir eine nackte Glühbirne, die Tag und Nacht leuchtete.“ Es gab keine Waschmöglichkeit, kein Toi-lettenpapier, dafür Flöhe und Läuse zuhauf. Doch er und seine Kameraden dachten damals noch, sie kämen allenfalls ein halbes Jahr in ein kommunistisches Umerziehungslager. Die Gerichtsverhandlung für die 33 Angeklagten war laut Klaus Adlung eine Farce: Die Jungen und Mädchen mussten in russischer Sprache angefertigte Protokolle unterschreiben, der Dolmetscher übersetzte nur lückenhaft. Das Urteil: konterrevolutionäre Umtriebe. Neun Todesurteile – davon wurden drei durch Erschießen vollstreckt –, 23 Mal zehn Jahre Haft, einmal sieben Jahre Haft. „Die Russen wollten an uns ein Exempel statuieren.“ Der junge Klaus wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Erst im Jahr 1995, in der Gorbatschow-Ära, sollte Klaus Adlung einen Brief aus Moskau erhalten, aus dem er erfuhr, wessen die Russen ihn damals beschuldigt hatten. In dem Brief wurde er – nach erneuter Durchsicht alter Akten – „mangels strafbarer Handlungen“ rehabilitiert.

Den Peinigern vergeben

Wenn der 89-jährige Bad Homburger heute an die letztendlich acht Jahre Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen und im DDR-Zuchthaus Untermaßfeld bei Meiningen bis zu seiner Freilassung im Jahr 1954 zurückdenkt, laufen zwei Empfindungen in ihm parallel: Einmal das Trauma, das die unsäglichen Torturen hinterlassen haben, die er in russischer und später in ostdeutscher Gefangenschaft erlitt, und gleichzeitig seine zutiefst menschlichen Gefühle, die es ihm ermöglichten, seinen Peinigern innerlich zu vergeben und sich ab den späten 1950er-Jahren beruflich und gemeinsam mit seiner Frau und zwei Töchtern ein gutes und gelingendes Leben aufzubauen. Fast so etwas wie Humor scheint auf, wenn sich Klaus Adlung an die vier Jahre im KZ Sachsenhausen erinnert: „Wir durften kein Lebenszeichen an unsere Angehörigen senden, haben bei Wassersuppe und 300 Gramm Brot vor uns hinvegetiert, im Winter bei Eiseskälte. Ohne jede Verbindung nach draußen, kein Stück Papier, kein Radio, nur die Gedanken an die Lieben und das nächste Essen. Wenn zum Essen die Blechbehälter draußen klapperten, kam ich mir vor wie im Schweinestall.“ Zuerst verhungerten die kräftigsten seiner Kameraden, andere starben an Tuberkulose und Ruhr. Von den 23 Jungen kamen nur elf wieder nach Hause. 1950 wurde das Konzentrationslager aufgelöst, der 20-Jährige mit überlebenden Kameraden in einem Güterwaggon von den Sowjets ins Zuchthaus Untermaßfeld in DDR-Haft überstellt. „Als angebliche Kriegsverbrecher wurden wir den Deutschen zur weiteren Bestrafung übergeben.“ Dort musste wegen der vielen TBC-Kranken ein Lazarett mit Labor eingerichtet werden. Hier lernte Klaus Adlung einen Medizin-Professor kennen, der ihn in die Laborarbeit einführte. Nach einer Strafversetzung des Professors übertrugen die Ärzte mangels eigenen Fachwissens die Erstellung der Befunde an Klaus Adlung. In die Bücherlieferungen mit medizinischer Literatur mischten die Ärzte für den Häftling Adlung Lehrbücher in Chemie, Mathematik und Latein – so konnten er und sein gleichaltriger Zellengenosse jede freie Minute zum Lernen nutzen. „Damals wollte ich Arzt werden.“ Die Schlüsselgeräusche der ab- und aufschließenden Wächter verfolgen ihn noch heute.

Im Januar 1954 wurde Klaus Adlung aus der Gefangenschaft der DDR in den Westen entlassen, wo sein Vater in Hamburg wohnte. Er machte mit 24 Jahren das Spätheimkehrer-Abitur und anschließend eine Banklehre bei der Commerzbank. In der Bank stieg Klaus Adlung später bis zum Vorstand der angegliederten Rheinischen Hypothekenbank auf – bei seinem Abschied aus dem Berufsleben verlor die Institution nach Aussage vieler Mitarbeiter einen sehr menschlich denkenden und handelnden Vorgesetzten. Mehrmals hat Klaus Adlung nach 1954 das ehemalige KZ Sachsenhausen besucht, gemeinsam mit überlebenden Freunden 1989 am Rande des Geländes ein Kreuz mit den Namen der erschossenen und gestorbenen Kameraden aufgestellt. Intensive Hobbies wie Golfspielen – er war Schatzmeister des Kronberger Golfclubs –, Lesen und seine Bridge-Runden halfen und helfen ihm heute noch, positiv zu denken und zu leben. In seiner Heimatstadt Wittenberge hat er Schülern von seinem Schicksal erzählt. „Jede Diktatur ist schlimm. Und dass die Demokratie die beste politische Form der Welt ist, das sollten alle Jugendlichen wissen.“

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