Eine sichtbare „Bürokratie des Horrors“

Gegenstände, die von Menschen erzählen, die in Konzentrationslagern der Nazis aller Habseligkeiten beraubt wurden: Das Kaiserin-Friedrich-Gymnasium Bad Homburg lädt zur Ausstellung „#StolenMemory“ über das Forschungsprojekt der Arolsen Archives zur Rückgabe gestohlener Dinge an die Angehörigen von KZ-Opfern ein. Die Schüler bewegen die dargestellten Geschichten. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). „Das ist ein Ring meiner Großmutter“, sagt eine Schülerin der Jahrgangsstufe Q2 des Kaiserin-Friedrich-Gymnasiums, die mit zwei Freundinnen vor dem aufgeklappten Container steht und sich die Ausstellung „#StolenMemory“ anschaut. Sie zeigt den zierlichen Goldring mit grünem Stein an ihrem Finger. „Den würde ich auf jeden Fall mitnehmen, wenn ich plötzlich umziehen müsste und auswählen sollte, was mir wichtig ist.“ Ein Familienschmuckstück. Viele Häftlinge hatten bei ihrer Einlieferung in die Konzentrationslager der Nationalsozialisten Dinge dabei, die ihnen selbst von großer Bedeutung waren: Uhren, Eheringe, Schmuck, Familienfotos oder Puderdosen, Zeugnisse und Medaillen. Die Nazis, die ab Kriegsbeginn 1939 im ganzen Deutschen Reich Konzentrations- und Vernichtungslager und unzählige KZ-Außenlager errichteten, nahmen den zu Vernichtung und Zwangsarbeit bestimmten Menschen jede persönliche Habe ab. Den KZ-Opfern wurde die menschliche Würde auch dahingehend geraubt, dass sie im Andenken ihrer Angehörigen eine total „unbegreifbare“ Lücke hinterließen – denn manchmal können geliebte Gegenstände für Söhne, Töchter und Enkel das einzig Greifbare werden, was bleibt. Das wird dem Besucher der beeindruckenden Ausstellung der Arolsen Archives deutlich, die bis zum 12. März auf dem Gelände des ehemaligen Bundesausgleichsamts am Seedammweg in Bad Homburg gezeigt wird.

Geschichtslehrerin Christina Holte, seit 2009 am KFG mit den Exkursionen für die Oberstufe nach Weimar und Buchenwald und mit der Organisation von Zeitzeugengesprächen am Gymnasium betraut, hatte die Wanderausstellung angefordert, die seit 2020 durch Deutschland tourt. Nun steht der Container in unmittelbarer Nachbarschaft zur verfallenen jüdischen Villa Goldschmidt. „Mir liegt daran, dass die Schüler über die in QR-Codes aufrufbaren Interviews von diesen unglaublichen Geschichten erfahren“, sagt Christina Holte. Zur Ausstellungseröffnung war Roska Lillith von den Arolsen Archives ins KFG gekommen. Das seit 1963 bestehende internationale Zentrum in Bad Arolsen ist mit seiner Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Es gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Sein umfangreiches Online-Archiv macht die Dokumente auch weltweit zugänglich. Von Rückgabe der Raubkunst liest man immer wieder. Das Projekt „StolenMemory“ nun ist der seit 2016 laufende Versuch, Angehörige der KZ-Opfer über deren verbliebene persönliche Gegenstände ausfindig zu machen und diese zurückzugeben.

Alexander Palchik, Lehrer des Geschichts-Leistungskurses der Q2, geht mit 16- und 17-jährigen Schülerinnen und Schülern an den Informationswänden entlang. Zwei Jungen unterhalten sich über das KZ-Opfer Theophilos Simonides, den die deutsche Wehrmacht ins KZ verschleppte: „32 Jahre war er, das muss man sich mal vorstellen!“, sagt ein Schüler und betrachtet das Foto der silbernen Taschenuhr und des Anhängers mit Pferdekopf an einer Kette, die dem Umgekommenen viel wert gewesen sein mussten. „Was haben die Menschen alles miterlebt – das war echt krass“, murmelt ein junger Ausstellungsbesucher. Uhr und Anhänger haben die Arolsen Archives auf dem nüchtern mit Schreibmaschine gekennzeichneten braunen Papierumschlag abgelichtet – einer von 4700 Umschlägen mit sogenannten „Effekten“, die 1963 nach Bad Arolsen kamen. Die meisten stammen aus dem KZ Neuengamme bei Hamburg, einige aus Dachau und Bergen-Belsen; viele haben eine wahre Odyssee hinter sich. Die „Effekten-Kammern“ der KZs, in denen SS-Lagerkommandanten all diese geraubten Dinge akribisch mit Nummern versehen eintüteten und aufbewahrten, zeugen von nationalsozialistischen Verbrechern damals, die glaubten, sie täten nichts Unrechtes: eine Bürokratie des Horrors wird sichtbar, die Verwalter des Verbrechens sahen sich durch ihre Ideologie legitimiert.

„Meine Mutter war eine schicke Frau, die Wert auf eine elegante Erscheinung legte“, hört man Wanda Jaroszynska im Interview erzählen. Sie bekam das Bernsteinarmband ihrer Mutter Wieslawa Brzys lange nach Kriegsende in die Hände gelegt. „Ich war ehrlich gesagt erstaunt, dass sich jemand nach über 70 Jahren die Zeit nimmt und die Lust hat zu suchen und die persönlichen Gegenstände an die Nachfahren zurückzugeben.“ Eine andere Schautafel zeigt den Niederländer Joop Will: er erhielt Familienfotos zurück und einen Abschiedsbrief seines Vaters Peter Will, den dieser Widerstandskämpfer vor dem Abtransport ins KZ 1943 schrieb. „Wenn man so eine Effekte bekommt, wird man wieder an die Schrecklichkeit des Krieges erinnert. Dass Menschen ihre eigene Meinung nicht mehr haben durften“, sagt Joop Will. Die Brüder einer Missions-der Ordensgemeinschaft aus Würzburg erhielten 2016 die persönlichen Gegenstände ihres Mitbruders, Pater Engelmar Unzeitig, zurück, der im KZ Dachau an Typhus starb, nachdem er kranke Mitgefangene gepflegt hatte. „Wir suchen Angehörige…“ steht auf Info-Tafeln zur aus Russland verschleppten Zwangsarbeiterin Neonella Doboitschina und dem 1911 geborenen Österreichers Claude Taufer, der aus Italien ins KZ Dachau deportiert wurde. Besonders die Opfer des Widerstands und Zwangsarbeiter aus über 30 Ländern, viele aus Polen und der Sowjetunion, stehen im Fokus. 2500 Effekten warten noch auf die Rückgabe, das Archiv geht jedem Hinweis nach.

„Wenn ich mich entscheiden müsste, was ich mitnehmen will, wären es keine materiellen Dinge. Es wäre mein Vater, den ich mitnehmen würde“, sagt eine Schülerin nach langem Nachdenken. Emotionale Werte seien wichtiger als Gegenstände, meint eine andere Schülerin. Die Chance, zusammen bleiben zu können mit den Liebsten, wurde jedoch so vielen Opfern des Nationalsozialismus brutal geraubt; sie erwies sich an der Rampe, an der die Züge vor den Vernichtungs- und Konzentrationslagern anhielten, endgültig als Illusion. Die Ausstellung „#StolenMemory“ legt auf berührende Weise ans Herz, dass diese Menschen auch über Jahrzehnte und den Tod hinweg durch das, was sie besaßen, in liebevoller Erinnerung vielleicht in die Lebenswege der eigenen Angehörigen integriert werden können.

Der Ausstellungs-Container #StolenMemory der Arolsen-Archives ist bis zum 12. März montags bis freitags von 9 bis16 Uhr auf dem Gelände des Bundesausgleichsamts (Ecke Weinbergsweg/Seedammweg) bei freiem Eintritt geöffnet. Freiwillige, die mitforschen möchten, können Informationen unter arolsen-archives.org und stolenmemory.org erhalten. In der kostenlosen App #StolenMemory ist die Ausstellung ebenfalls zu erleben.



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