Bad Homburg (a.ber). „Zeit macht nur vor dem Teufel Halt“: Barry Ryans Schlager war 1972 die Nummer Eins der ZDF-Hitparade. Ein Gewinner-Hit – analytisch, fast philosophisch, dazu vital und emotional. „Der Schlager ist mir aus meiner Kindheit hängengeblieben. Zeit ist ein faszinierender, abstrakter Begriff. Bin ich in der Lage, mir die Unendlichkeit vorzustellen? Diese göttliche Sphäre? Es ist doch Ausdruck meiner Menschlichkeit, dass ich das nicht kann. Zeit heißt Endlichkeit – das hat etwas Tröstliches“, sagt Jörg Bollmann im Gespräch.
Es ist der Tag nach seiner offiziellen Verabschiedung in den Ruhestand. Großer Bahnhof war beim Festgottesdienst für den scheidenden Direktor des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP) in der Erlöserkirche Bad Homburg gewesen. Viele Größen aus Funk und Fernsehen und aus der Evangelischen Kirche Deutschland waren gekommen: Direktoren und Redaktionsleiter von ARD, ZDF und RTL, die Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs und EKHN-Kirchenpräsident Dr. Volker Jung. Vertreter der evangelischen Presseverbände sprachen Grußworte, Jörg Bollmanns enger Weggefährte aus Sportreporterzeiten, Fußball-Legende Rainer Bonhof, meldete sich über Leinwand. Menschen aus Bollmanns Heimat-Kirchengemeinde, der Gedächtniskirche in Kirdorf, und andere Bad Homburger Christen waren da, die den engagierten Lektor schon in so manchem Sonntagsgottesdienst hier als Prediger erlebt haben.
Verabschiedet wurde einer, der jahrzehntelang die deutsche Medienlandschaft mitprägte. Zuerst als leidenschaftlicher Fußball-Radioreporter und leitender Redakteur für Sport, Nachrichten und Landespolitik bei Radio ffn in Niedersachsen; ab 1992 als NDR1-Sportchef und später in Hamburg als NDR2-Wellenchef. „Immer Radio – das war meine Leidenschaft.“ Und schließlich leitete Jörg Bollmann seit dem Jahr 2002 die Geschicke des GEP und baute den Medienverbund zu einem Kompetenzzentrum der Medien- und Publizistikarbeit der evangelischen Kirche in Deutschland aus.
Analytisch veranlagt, vital und emotional war der 1958 im ostwestfälischen Herford geborene Jörg Bollmann wohl schon immer. Ein Charakter, der sich gerne im Überblicken von Situationen übt und leidenschaftlich „Toooor!“ schreien kann. Emotionalität war im Spiel, als der Zehnjährige auf einer Silvesterfeier bei Nachbarn die Reportage des legendären Fußball-Journalisten Herbert Zimmermann zum WM-Endspiel 1954 von einer Schallplatte hörte: Deutschlands Sieg über Ungarn, das „Wunder von Bern“. Da habe er den Entschluss gefasst, von Beruf Fußballreporter zu werden, erzählt Bollmann. Er fing an, im Garten seines Elternhauses Fußballspiele gegen sich selbst zu inszenieren – „die dazugehörigen Radiosendungen habe ich mir dann im Geheimen im Kinderzimmer ausgedacht“, lacht er. Nach dem Soziologie-Studium in Bielefeld bei Koryphäen wie Niklas Luhmann und Claus Offe und Lehrjahren im Lokaljournalismus stieg Jörg Bollmann 1987 beim privaten Radiosender ffn ein. „Und nun wird mir wirklich ganz anders – und! – jetzt geht es los! Looping! Schraube! Ist das widerlich!“ Erinnerungen, festgehalten als Tonaufnahme: Seine Live-Reportage aus der Achterbahn im Heide Park Soltau sprüht vor Vitalität. 1988 übertrugen dann sechzehn Radiosender die Berichterstattung des 30 Jahre jungen Reporters zur Fußball-Europameisterschaft. Bollmann machte Karriere. Geschult durch Lehrmeister wie Herbert Zimmermann, deren Sprach- und Sprechstil Jörg Bollmann genau analysierte – „die Kunst, viele Worte zu machen, wenn nichts los ist auf dem Spielfeld, und Schilderungen zu verknappen, wenn die Szenerie sich zuspitzt.“
Situationen durchleuchten, an neue Gegebenheiten anpassen, Chancen sehen: dieses analytische Talent konnte Jörg Bollmann als Direktor des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik in Frankfurt später ganz anders weiter entfalten. Formate wie das reichweitenstarke „Chrismon“-Magazin, ZDF-Fernsehgottesdienste, Materialhefte für Gemeindebriefe und Gebetsangebote auf evangelisch.de förderte er mit kaufmännischem und journalistischem Manager-Geschick. „Die evangelische Publizistik bietet einen großartigen Handlungsspielraum in Funk, Fernsehen, Print und Online“, schwärmt er. Durch die kirchliche Pressearbeit kam er auch dem Glauben näher. Seit vielen Jahren engagiert sich der zweifache Vater gemeinsam mit seiner Frau Brigitte Bollmann in der Bad Homburger Gedächtniskirchengemeinde, ist dort Kirchenchorsänger und Stiftungs-Vorsitzender. Manches in seiner Kirche sieht Jörg Bollmann kritisch. „Die Kirche hat immer noch viel Geld. Ich sehe da keinen Mangel, eher ein Verteilungsproblem und damit eine Management-Herausforderung, Kräfte zu bündeln und den Reichtum statt des Defizits zu vermitteln.
Das Ziel ist doch, Menschen für den Glauben zu begeistern. Ein viel größeres Problem sehe ich in der Debatte über sexuellen Missbrauch und dass wir als Kirche da viel Schuld auf uns geladen haben.“ Kommunikation und Situationen zur Sprache bringen – ein Herzensthema von Jörg Bollmann. „Dabei fasziniert mich die aktuelle Wucht 2000 Jahre alter Bibeltexte und wie viel Bedeutung sie noch für uns Menschen heute haben“, sagt der quicklebendige Ruheständler, der nach seiner Lektoren-Ausbildung nun auch die kirchliche Prädikanten-Ausbildung in Angriff nimmt.
Zeit ist endlich „und macht nur vor dem Teufel Halt“, so singt Barry Ryan. Das Buch „Habermas und die Religion“ und Edgar Selges Roman „Hast du uns endlich gefunden“ liegen als Lektüre schon bereit, Lesen und Fahrradfahren sind Jörg Bollmanns Hobbies. Über einem Stuhl im Wohnzimmer hängen Gladbach-Trikots: er ist glühender Fan von Borussia Mönchengladbach, und so wird auch die Leidenschaft für Fußball im Ruhestand Raum finden. Die Karte für das EM-Spiel Dänemark gegen England im Juni in Frankfurt ist schon gebucht.
Was ihn am ersten Tag seines Ruhestandes umtreibt? „Ich will Dankesbriefe schreiben. Ich habe Sehnsucht nach Freiheit und nach meinen beiden Enkeln.“