Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland und Europa

„Wir wissen, dass wir zu den gesegneten Menschen auf diesem Planeten gehören, was hoffentlich so bleiben darf – was sind wir bereit, für Demokratie und Freiheit einzusetzen?“: Rainer Eppelmann (3. v. l.) in der Diskussion mit Ulrich Krebs, Rita von Seidel und Dr. Hauke C. Öynhausen (v. l.). Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). Montag, 9. Oktober 1989, Nikolaikirche Leipzig: Fast 80 000 DDR-Bürger setzten sich am Abend dieses Tages in Bewegung, Kerzen und Plakate in der Hand, und protestierten gegen die Diktatur. Mittendrin auch der evangelische Pfarrer Rainer Eppelmann. DDR-Staatsratschef Erich Honecker hatte schon Tage zuvor getobt und gedroht: „Wir müssen sie so empfangen, dass sie nie wieder kommen!“ Doch der leitende Offizier der Staatssicherheit gab den Befehl zum gewaltsamen Eingreifen nicht, wartete ab. „Sie hatten alle Angst, jeder dort dachte: Werd’ ich jetzt zusammengekloppt? Komme ich je wieder nach Hause?“, schilderte Eppelmann die damalige Situation. Die demonstrierende Menschenmenge löste sich dann friedlich auf. „An diesem Abend hat die Angst die Seiten gewechselt.“ Deshalb sei dieser 9. Oktober „für unser Menschsein ein wichtiger Meilenstein“, sagte Rainer Eppelmann.

Sein Festvortrag zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in der Bad Homburger Erlöserkirche war alles andere als eine Analyse der Geschichte im besserwisserischen Tonfall des „Ich war dabei“. Die Rede war eine der eindringlichen Fragen und menschlich leisen Untertöne, der ironisch-humorvollen und damit entgifteten Rückschau und des tief empfundenen Dankes für die Wiedervereinigung Deutschlands – und in Bezug auf die aktuellen Krisen ein klarer Aufruf an uns deutsche Bürger, „Bequemlichkeit, Blauäugigkeit und Achtlosigkeit“ gegenüber den Grenzüberschreitungen Putins aufzugeben und deutlich öffentlich einzustehen für Demokratie im eigenen Land und in Europa.

Eingeladen zum Festakt „Denk‘ ich an Deutschland“ hatten die Stiftung „Kirche in der Stadt“ der Erlöserkirche sowie die Stadt Bad Homburg. Inhaltlicher Schwerpunkt war diesmal der Krieg in der Ukraine. Rainer Eppelmann – 1943 in Berlin geboren, DDR-Bürger und 1982 prominenter Mitinitiator der Friedensbewegung „Frieden schaffen ohne Waffen“, Zeitzeuge der Friedlichen Revolution 1989, im Jahr 1990 Verteidigungs- und Abrüstungsminister der letzten DDR-Regierung und nach der Wiedervereinigung bis 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages – ließ wichtige Daten der DDR-Diktatur und der Wiedervereinigung Revue passieren. Er berichtete unter anderem vom brutal mit sowjetischen Panzern niedergeschlagenen Streik der Werktätigen und Bürger am 17. Juni 1953, von Ereignissen im Oktober 1989 und der folgenden Großdemonstration am 4. November. „War das herrlich! Großdemo auf dem Berliner Alexanderplatz mit selbstgemachten Plakaten, einer Zeichnung von Egon Krenz mit riesigen Zähnen – wunderbar!“ Seine im Berliner Tonfall erzählten Details auch der Stimmungen damals führten ihn zu Fragen an die anwesenden Zuhörer: „Fragen Sie sich mal, wie Sie sich in einer Diktatur verhalten würden? Oder gucken Sie jetzt nach Russland: Wer will schon lebenslang massiv benachteiligt sein und den eigenen Kindern die Zukunftschancen stehlen? Können Sie sich vorstellen, dass die Menschen, die sich so verhalten – ,Schnauze halten und nur nich ufffallen‘ –, sich eigentlich ganz anderes wünschen? Können Sie Verständnis für sie haben?“

Angst zu haben sei menschlich, so der Theologe, gerade für Menschen, die noch nie Demokratie und Freiheit erlebt hätten. Der CDU-Politiker erinnerte daran, dass nur diejenigen ehemaligen Länder der Sowjetunion, die sich 1989 bis 1992 selbst befreit hätten, wie zum Beispiel die drei baltischen Staaten, heute tatsächlich Demokratien seien. Kasachstan und andere südliche ehemalige Sowjet-Republiken hätten bisher nur den Namen ausgewechselt, ihre Strukturen aber nicht verändert, so Eppelmann. „Das ist nicht so schnell zu machen, die brauchen Zeit und unser Verständnis.“ Wir Deutschen müssten uns ernsthaft fragen, was wir bereit seien, an Kraft, Geld und Engagement einzusetzen für Demokratie und Freiheit. Uns fragen, was der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur sei. „Wer sein Leben liebt, muss sich für Demokratie einsetzen. Und reicht es, was unsere Regierung gerade macht für die, die ganz ähnliche Träume und Hoffnungen haben wie wir?“ fragte Rainer Eppelmann kritisch.

Um den Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland und Europa in Krisenzeiten ging es im anschließenden Podiumsgespräch, moderiert von Dr. Hauke C. Öynhausen von der Stiftung „Kirche in der Stadt“. Neben Pfarrer Eppelmann saßen der Landrat des Hochtaunuskreises, Ulrich Krebs, sowie die Kirchenvorsteherin der Evangelischen Kirchengemeinde Bad Homburg-Gonzenheim, Rita von Seidel, in der Runde. Krebs stellte das Thema Hilfsbereitschaft als gesamtgesellschaftliche Aufgabe in den Fokus und berichtete vom Verein „Ukrainehilfe Taunus“, der Hilfsgütertransporte organisierte und derzeit die Unterstützung der 800 ukrainischen Flüchtlinge in Bad Homburg sowie weitere Initiativen in anderen Städten des Kreises begleitet. „Wir haben engagierte Bürger und Stadtverwaltungen, aber wir brauchen jetzt einen langen Atem“, so der Landrat.

Rita von Seidel, Mitinitiatorin des Ukrainisch-Deutschen Jugendtreffs ihrer Kirchengemeinde, sagte, dass Raum für Begegnungen und Gespräch wichtig sei: „Unser Jugendtreff ist ein geschützter Raum für geflüchtete Jugendliche, um Freundschaften untereinander und mit deutschen Schülern zu knüpfen.“ Von Seidel mahnte an, dass unsere Jugend Perspektiven brauche. „Mich ärgert die Teilnahmslosigkeit vieler, auch Jüngerer, die eher an Selbstoptimierung interessiert sind, die statt Zukunftsperspektiven Verunsicherung und Politikverdrossenheit ausdrücken.“ Hoffnungslosigkeit und Lebensverzicht eigneten sich dazu, sich wieder einzumauern, meinte Rainer Eppelmann. „In einem solchen Land, das sich wieder einmauert anstatt in Krisen gemeinsam zu reden und zu handeln, würde ich mich nicht wohlfühlen.“ Das Miteinandertun sei jetzt auch unter uns Europäern wichtig, betonte der ehemalige Minister. Aber in allem gelte es, so der Pfarrer, den Andersdenkenden zu bejahen. Doch nur wer Ja zu sich selbst sagen könne, dem könne dies auch gelingen.

Gemeinsames vielstimmiges Musizieren ist da sinnfällig: Der Kammerchor der Erlöserkirche unter der Leitung von Susanne Rohn umrahmte den Festakt mit dem im Februar 2022 von John Rutter komponierten Stück „A Ukrainian Prayer“ und Sibelius‘ Stück „Be still, my soul“, am Ende erhoben sich alle zum Singen der deutschen Nationalhymne. Bei Stiftungsbier und Würstchen auf dem Kirchplatz blieb Zeit für Gespräche.

 

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