Eschborn. Die Finanz- und Handelswelt im sonst meist trist glasgrauen Eschborner Gewerbegebiet bekommt farbige Glanzfelder. Bunte Tupfer, auch wenn sie geometrische Formen haben, weil der Malgrund das so vorgibt. Verspielt, kraftvoll fließen die Farben vom blauen Himmel hinunter zur Erde, strahlen Lebensfreude und Optimismus aus.
Christian Awe macht seine Kunst in Zeiten geschlossener Galerien und Museen frei zugänglich, ohne Ansteckungsgefahr sichtbar und kostenlos erlebbar. Ein Gesamtkunstwerk aus vier großformatigen farbenprächtigen Bildwerken von je etwa 400 Quadratmeter Fläche wird es, das auch vom labyrinthartigen Schnellstraßengekreisel zwischen den Hochhauswelten aus wahrnehmbar ist.
Eine Publikum anlockende scheinbare Gegenwelt mit besonderer Ausstrahlung. „Da gab es schon Menschen, die sind extra von der Straße abgebogen und haben hier eine Viertelstunde und länger nur geschaut“, freut sich Christian Awe. Auch übrigens über Besucher, die ihm bei der Arbeit zuschauen, wenn das zufällig so passt. Noch ein paar Wochen wird er immer wieder tageweise am Projekt „Haus M55“ neben der Deutschen Börse in Eschborn arbeiten. Wer spontan vorbeikommt, kann vielleicht einen Blick auf den 41-jährigen Künstler bei der Arbeit in luftiger Höhe erhaschen.
Noch steht das Geisterhaus mit ungefähr einem Dutzend Stockwerken neben der Deutschen Börse leer. In der Frühlingssonne wirkt es trotzdem lebendiger als die streng gesicherte Trutzburg der Finanzmakler mit den unzähligen gleichförmigen Fenstern, hinter denen die Stimmung in diesen Tagen eher finster ist. Am Samstagnachmittag macht dort nur ein einsamer Wachmann die Runde hinter dem hohen Zaun, nebenan wird die Welt von Stunde zu Stunde farbenfroher. An der Südwestfassade von „Haus M55“ in der Mergenthalerallee pinselt, rollt, sprayt Christian Awe wild entschlossen und wohl überlegt vom Gerüst aus seine bunte Welt hochformatig an die dritte von vier vorgesehenen Fassaden.
Oh ja, knapp 40 Meter hoch und zehn Meter in der Breite, bis die Flachdachkante die sprühende Kreativität bremst. „Meine Bilder sind wie der Blick in die Wolken“, sagt der Berliner Streetart-Künstler. Wenn man an der Westseite unten steht, direkt vor der bunten Wand oder auch ein Stück entfernt, und der Blick langsam nach oben wandert, ist klar, was der Schöpfer der Farbexplosionen meint. Könnte gut sein fürs Standort-Marketing. Rund 8500 noch zu vermietende Quadratmeter Bürofläche mit Kunst am Bau direkt neben der Börse, ein feines Argument in einer Zeit, in der am Zukunftsrad justiert werden muss.
Wo er kann, dreht Christian Awe, der Mann aus Berlin-Lichtenberg, der die Kunst als Sinn seines Lebens schon mit sechs Jahren beim Beobachten eines Fassadenmalers entdeckt hat, gerne ein bisschen am Zukunftsrad mit. Bei Kunstprojekten mit Flüchtlingen, bei der Finanzierung von Schulbau und Krankenstation im westafrikanischen Burkina Faso, bei zahlreichen Charity-Auktionen zugunsten von sozialen Projekten. So soll es auch sein, wenn es „nach dieser ganzen Corona-Zeit“ vielleicht doch noch zu einer bunten Eröffnungsfeier auf dem Gelände von „Haus M55“ kommt. Am 25. Juni etwa, dann soll es eigentlich eine schöne Kulturparty im Schatten des Kunstprojekts geben. Wenn die aktuelle Corona-Situation es zulässt. Hoffnung, Mut und gute Laune, die so wichtig sind im aktuellen Schwindel der Zeit, sollen von Eschborn aus wie ein positives Virus exponentiell in die Welt getragen werden.
Bei Georg Baselitz an der Universität der Künste Berlin hat der 1978 geborene Christian Awe bis 2005 sein Studium absolviert, danach war er Meisterschüler bei Daniel Richter, später Artist in Residence an der Princeton University. Von Berlin aus rückte sein oft großflächiges Werk in das Blickfeld der Kunstwelt, war in Japan und Dubai zu sehen, in Duisburg und Los Angeles, in Russland. Dauerhaft monumental auf riesigen Hausfassaden in Berlin in der Nähe des Alexanderplatzes, als bunter Hingucker auf der metallischen Einrahmung des Porsche-Zentrums in Hamburg.
Um die gesamte Welt dürfte das über vier Stockwerke der Landesvertretung Niedersachsen in Berlin reichende querformatige Wandbild mit dem Titel „Begegnung“ 2016 gegangen sein. Für dessen Vollendung hat sich Christian Awe an Seilen aufhängen lassen, ist auf Hebebühnen rauf und runter gefahren. So exponiert durfte kein Künstler sonst seine Wahrnehmung des Flüchtlingsthemas der Zeit und seine Hoffnung zum Ausdruck bringen, direkt neben dem Holocaust-Mahnmal in Blickweite zum Brandenburger Tor und zum Reichstag. Temporär zwar, aber ein echter Meilenstein der Kunstwahrnehmung im öffentlichen Raum, fotografiert und in die Welt verbreitet von Menschen aus allen Kontinenten.