Wenn sich das Leben von einer Minute auf die andere ändert

Immer wenn Saskia bei ihm ist, geht es Sven besser. Er kann sogar schon wieder lächeln.

Weihnachten ist die Zeit der Besinnlichkeit, der Ruhe. Viele sagen auch, ihr wohnt etwas magisches inne. Wir feiern dieses Fest aus den verschiedensten Gründen. Die einen, weil ihnen der Heiland geboren ist, die anderen, weil sie endlich wieder im Kreise der Familie sein können und dann sind da noch die, die etwas so einschneidendes, schmerzliches, beängstigendes mitgemacht haben, was ihr Leben verändert hat - von einem Tag zum anderen, von einer Minute zur anderen. Sie feiern diese Zeit, weil sie noch am Leben sind, weil sie die Kraft hatten, diesen Weg zu gehen, der am Ende ein glücklicher war, aber ihnen mehr abverlangte als vielen, vielen anderen von uns. Dies ist die Geschichte von Sven und Saskia Ackerstaff, die in diesem Jahr etwas durchmachten und erlebten, was sie für immer veränderte.

Schmal sieht er aus und blass. Aber Sven Ackerstaff (37) sitzt an seinem Esstisch im Wohnzimmer, ohne Sauerstoffschlauch in der Nase. Jetzt, nach drei Wochen Reha, benötigt er die lebenswichtige Gabe nur noch, wenn er Belastungen ausgesetzt ist. An den 6. Dezember 2020 kann er sich noch gut erinnern. Schon Tage vorher fühlten sich seine Frau Saskia (33) und er krank. Husten, Gliederschmerzen, Fieber - sie ahnten beide schon, dass sie sich wohl mit Corona angesteckt hatten. Am Nikolaustag dann die Gewissheit, der PCR-Test war positiv, beide begaben sich in häusliche Quarantäne. Ob sie wüssten wo sie sich angesteckt hatten? Beide schütteln den Kopf. Sven Axkerstaff arbeitete zu der Zeit als stellvertretender Filialleiter bei einem Optiker auf der Zeil, Saskia Ackerstaff gab in einem Gesundheitszentrum Yoga-Kurse. Bahnfahrten, Kundenkontakt - irgendwoher wird das Virus gekommen sein. 

Die beiden ziehen die Quarantäne durch, doch während Saskia sich langsam erholt, stellt sich bei Sven keine Besserung ein. Er fiebert hoch, der Husten nervt. Kurz vor dem Wochenende fragt Saskia ihren Mann noch, ob sie nicht vielleicht doch noch mal zum Arzt gehen, um abzuchecken, wie es wirklich um ihn steht. „Ich sah da die Notwendigkeit noch nicht“, erinnert sich Sven. „Ich dachte, das wird schon, dauert eben, bis man sich wieder erholt.“ Am 12. Dezember baut er rapide ab. Saskia versucht über die Nummer 116117 jemanden zu erreichen, der Hilfe geben kann, doch umsonst. Die Zentrale war im Coronawinter 2020 überlastet, keiner hebt ab. „Als sein Gesicht ganz grau wurde und die Lippen blau, da habe ich den Krankenwagen gerufen.“ Sven kommt nach Hofheim in die dortige Klinik. Seine Sauerstoffsättigung ist zu diesem Zeitpunkt schon so schlecht, dass die Ärzte schnell handeln müssen. „Sie haben mir gleich klar gemacht, wenn meine Sättigung durch die Gabe von Sauerstoff nicht innerhalb von Minuten besser wird, müssen sie mich in ein künstliches Koma versetzen.“ Panik macht sich in ihm breit. Angst und Überlebenswille. „In dem Moment realisierst du, dass es ums nackte Überleben geht. Es ist eine tiefgreifende Angst.“ Am Samstag, 12. Dezember 2020, wird Sven Ackerstaff ins künstliche Koma versetzt. Er fällt in ein schwarzes Loch.

Währenddessen versucht seine Frau Saskia herauszubekommen, in welches KH ihr Mann gekommen ist. Sie ruft in Bad Soden an, von dort wird sie direkt nach Hofheim auf die Intensivstation verbunden. Die Schwester, die sie dort in der Leitung hat, erklärt ihr ziemlich unfreundlich, was passiert ist und „dann machte sie mir zum Vorwurf, dass wir erst so spät gehandelt hätten.“ Saskia Ackerstaff ist erschüttert, auch heute noch. Aber, sie sagt selbst, heute macht sie sich keine Vorwürfe mehr. Woher sollten die beiden auch wissen, wie eine Covidinfektion verlaufen kann. Vor allen Dingen, wenn man jung, gesund und aktiv mitten im Leben stand und keinen Augenblick an den Gedanken verschwendete, dass diese Infektion diese Ausmaße annehmen kann.

Zwei Tage liegt Sven auf der Intensiv in Hofheim. Sein Zustand - kritisch. „Es war schnell klar, dass er an eine Herz-Lungenmaschine (ECMO) angeschlossen werden muss, sonst überlebt er nicht“, so seine Frau. Doch über so ein Gerät verfügt Hofheim nicht. Überhaupt sind die Kliniken zu dem Zeitpunkt schon weit überlastet, im Dezember 2020 sterben viele Menschen an ihrer Covidinfektion. Sven Ackerstaff hat Glück im Unglück. In Langen, in der Asklepiosklinik ist noch eine ECMO frei. Eine! Mit dem Krankenwagen wird der 37jährige verlegt und an die lebensrettende Maschine angeschlossen. Saskia darf aufgrund der Pandemielage nie dabei sein. Keine Besuche in Hofheim, keine Besuche in Langen. Sie sitzt allein zu Hause, allein mit ihren Gedanken, allein mit ihrer Angst. Anrufen darf sie. Am Telefon erklärt man ihr, dass Sven an die ECMO angeschlossen worden ist, das ein Luftröhrenschnitt gemacht werden musste, das ihr Mann in einem kritischen, aber stabilen Zustand ist. „Und dann sitzt du da in der  gemeinsamen Wohnung und wartest. Bei jedem Telefonklingeln schreckst du zusammen. Meine größte Panik war aber, dass das Telefon in der Nacht klingelt, dann weiß man ....“ Sie bricht ab, zu schmerzlich die Erinnerung. 

In Langen auf der Intensivstation ist man derweil bemüht, Sven aus dem künstlichen Koma zurückzuholen. Doch es will nicht so recht gelingen. Inzwischen ist es der 19. Dezember als das Telefon bei Saskia klingelt. Sie möge doch bitte in die Klinik kommen, vielleicht helfe ihre Anwesenheit, Sven wieder zurück zu holen in die wache Welt. Am 20. steht sie am Bett ihres Mannes, um sie herum, Piepen, Blinken, Schläuche über Schläuche. Und er kommt zurück. Öffnet die Augen, versucht zu sprechen. „Das erste Mal wach werden, war echt ziemlich spoky. Alles macht Geräusche, überall Lämpchen und das Personal in Vollmontur. So stellt man sich eine Raumstation auf dem Mars vor“, erzählt er von seiner Rückkehr ins Leben. Das ihm noch einiges bevorsteht, ahnt er in diesem Moment nicht.

Wie hat Saskia diese Zeit der Ungewissheit und vor allen Dingen der Einsamkeit erlebt? „Ich war wie in einer Blase. Mal wollte ich nur reden, mal allein sein und niemanden sehen. Ich habe unendlich viel geweint. Meine Freunde haben mich mit Bastelsachen versorgt, damit ich mich ablenken kann. Immer lag etwas vor der Tür.“ Sie fängt an, ihre Gedanken und Gefühle in einem Tagebuch niederzuschreiben, sprich darin Sven direkt an. Es hilft ihr, mit der Hilflosigkeit fertig zu werden.

In Langen spitzt sich die Lage wieder zu. Sven ist schwach, die Nieren versagen, er muss an die Dialyse. Innerhalb einer Woche kollabieren beide Lungenflügel und er müssen Drainagen gelegt werden. Und dann ist da noch eine Bullae in der Lunge. Bullae sind einzelne Luftblasen über 3 cm Durchmesser, die durch die Zerstörung von Lungengewebe aus vielen kleinen Lungenbläschen entstanden sind. In einigen Fällen eines fortgeschrittenen grossbullösen Lungenemphysems können einzelne, sehr große Bullae für Komplikationen sorgen und/oder gesundes, funktionstüchtiges Lungengewebe abdrängen. Sven muss operiert werden, die Bullae muss raus, denn sie ist mit Covid befallen. Der Toraxchirug macht klar, dass die Chance 50:50 steht. Die OP muss sein, Alternativen gibt es nicht. Im Februar erfolgt der Eingriff, alles scheint geklappt zu haben, doch nur zwei Stunden später kommt es zu Nachblutungen, Sven muss wieder in den OP. Der Brustraum wird mit Mulltüchern ausgestopft, die Blutungen können gestoppt werden. Fünf Tage später werden die Tücher wieder entfernt. Drei OPs, die ihm das Leben gerettet haben.

Es geht langsam aufwärts. Nach 101 Tagen wird er von der ECMO erlöst, atmet wieder komplett eigenständig, unterstützt von einer permanenten Sauerstoffzufuhr. Nach 118 Tagen darf er die Intensivstation verlassen, wird auf Normalstation verlegt und kämpft sich zurück ins Leben. Er lernt wieder sprechen, laufen, Treppensteigen. Kleine Schritte. 

Hat er mit sich gehadert? „Natürlich, da ist viel Frust und Wut in einem. Die Frage ‚Warum ich?‘ stellt man sich immer wieder“, gibt Sven zu. Auch Saskia spricht offen: „Er war oft im Zwiegespräch mit ‚oben‘ und in der ersten Zeit nach seinem Aufwachen habe ich ihn als sehr panisch erlebt.“ Doch es ist auch ganz viel Dankbarkeit in den beiden. Für das Personal in der Klinik, für die Pfleger, für die Ärzte. „Ich musste mich ja irgendwann mit meiner Situation abfinden und habe es mir auf der Intensiv zur Aufgabe gemacht, freundlich und nett zu den Menschen um mich herum zu sein“, erzählt Sven. Die kleinen Wörter Bitte und Danke können vieles bewirken. „Ich war ein dankbarer Patient, ich habe Hilfe annehmen müssen und wollen.“ Wenn Saskia bei ihm ist, geht es ihm besser. Das registrieren auch die Ärzte, Saskia bekommt zusätzliche Besuchszeit - eine win-win-Situation. Das erste Mal an die frischen Luft, das erste Mal die Eltern Wiedersehen, wenn auch aus der Ferne, all diese Dinge haben Sven geholfen, den Weg zurück ins Leben zu finden. Im Juli dieses Jahres ließ er es sich nicht nehmen, auf eigenen Füßen nochmal die Klinik in Langen und „seine“ Pfleger und Ärzte zu besuchen. 

Wie es gesundheitlich mit ihm weitergeht, kann noch keiner sagen. Nach der sogenannten Superinfektion mit Covid, bakterieller Lungenentzündung und Lungenembolie geben die Ärzte keine Diagnosen ab. Eine Bullae ist noch in der Lunge, sie wird beobachtet, eventuell muss sie noch raus. Sven hat 30 Kilogramm Körpergewicht verloren, aber er ist wieder aktiv. Er hatte sich ein Ziel gesetzt: Jeden Tag 10.000 Schritte gehen und das zieht er durch. „Was das körperliche angeht, habe ich es selbst in der Hand. Alles andere wird die Zeit bringen.“ 

Jetzt genießen die beiden erstmal die Weihnachtszeit. Das Erlebte hat sie enger zusammenschweißt. Saskia gibt aber auch zu, dass sie ängstlicher geworden ist. „Ich versuche aber, dieser Angst nicht den Raum zu geben, den sie einnehmen möchte, sondern mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.“ Das Wesentliche, ihr Mann, sitzt in diesem Moment neben ihr und bedenkt sie mit einem liebevollen Blick. Man kann den beiden nur das Beste wünschen.

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