Auf die Dosis kommt es an: Angst verleiht Flügel zum Bungeespringen, kann aber auch sozial lähmen

Professor Borwin Bandelow ist Bestsellerautor und regelmäßig Gesprächspartner in Funk und Fernsehen – diese Eloquenz in Form und Inhalt kennzeichnete auch seinen Vortrag im Königsteiner Forum. Foto: Friedel

Königstein (hhf) – „Wir haben lange nach ihm gefahndet, jetzt ist er da“: Die Freude von Moderator Professor Dr. Diether Döring, zum Jahresthema „Verunsicherte Gesellschaft“ nun den renommierten Angstforscher im Königsteiner Forum begrüßen zu können, war unüberhörbar. Ebenso darüber, dass „Leitung, Beschäftigte und Gehilfen der Frankfurter Volksbank“ sich wieder einmal mit viel Einsatz um das Gelingen des Abends verdient gemacht hatten.

Bei all dieser Vorsorge schienen auch die Zuhörer keine Angst vor dem Weg in den Hörsaal bekommen zu haben, die Schalterhalle war wieder einmal bis in den Umgang im ersten Stock gut gefüllt, um Professor Dr. med. Dipl.-Psych. Borwin Bandelow zu erleben. Ein Studium in Göttingen und Tübingen führte zu den Abschlüssen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychologe und Psychotherapeut. Nach der Promotion 1978 erarbeitete er sich die Professur für Psychiatrie und Psychotherapie in der Universitätsmedizin Göttingen und ist als international renommierter Experte für Angsterkrankungen auch Vorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung.

„Was macht Menschen Angst? Was ertüchtigt sie?“, hatte Professor Borwin Bandelow seinen Vortrag überschrieben und teilte die Auffassung des Beirats, dass es auch hier moderne Verschiebungen gibt: „Wir sind im Umbruch, was Ängste angeht“, heute fürchten sich viele vor allem vor Terrorismus oder überforderten Politikern, während früher eher Krankheit oder Pflegefall im Alter ganz oben auf der Liste stand.

Angst ist immer gegenwärtig

„Das ganze Leben ist von Angst bestimmt“, ob vor dem Räuber oder vor dem Verhungern, sie ist seit jeher Bestandteil des natürlichen Alltags, auch in der Tierwelt. Angst vor roten Ampeln oder Tempokontrollen bewirkt auch in der modernen Zivilisation überlebensförderndes Verhalten und kann sogar zu besonderen Leistungen motivieren. Diese reale Angst hat aber auch ein dunkles Geschwisterchen, nämlich unbegründete Angst, zum Beispiel vor Fußgängerzonen, Mäusen oder Fahrstühlen – sie hat sich in einem anderen Teil des Gehirns eingenistet.

Krankhafte Angst kann sich zwar auch als generelle Störung - Angst vor allem, was demnächst passieren könnte – äußern, in der Regel handelt es sich aber um spezifische Phobien. Solche Panikstörungen – deren Symptome wie Herzrasen oder Zittern sehr real sind – können recht bizarr ausfallen, bekannte Auslöser sind unter anderem Knoblauch, Maulwürfe, schöne Frauen oder Glatzköpfe. Wie 1967 in Singapur können sie sich zu regelrechten Epidemien auswachsen, die Männer fürchteten sich damals vor Penisschwund, und natürlich lassen sich fragwürdige Heilmittel dagegen stets gut verkaufen, manchmal sogar mit wirksamem Placebo-Effekt.

Ohne Frage führen solche Angststörungen oft nicht nur zu Einschränkungen im Berufsleben, sondern auch im privaten Bereich, wo mit der „sozialen Phobie“ eine eigene Krankheitsgattung ausfindig gemacht worden ist. Keinen Partner zu finden oder Trennungsangst schränken stark ein, führen sie zur Angst vor Kritik, ist gerne Schüchternheit die Folge, woraus sich ein regelrechter Teufelskreis ergibt.

Medikamente oder Therapie?

Traditionell setzte man in England auf die eigentlich in Südafrika entwickelte Psychotherapie, während in den USA entsprechende Medikamente, vor allem Antidepressiva, entwickelt wurden. In der heutigen Praxis bemüht man sich, Menschen nicht mehr für längere Zeit zur Therapie aus ihrer gewohnten Umwelt zu nehmen, da dies oft kontraproduktive Folgen hatte: „Job weg, Familie weg – Angst wieder da.“ Therapeutisch ist derzeit die „Angstambulanz“ angesagt, nach dem Prinzip „da muss er durch“ soll der Patient sich mit dem Gegenstand seiner unrealistischen Angst auseinandersetzen.

Vor dem Hintergrund des Erhaltes der sozialen Strukturen brach Professor Bandelow aber auch eine Lanze für die moderne Generation von Medikamenten: „Die wirken stärker als eine Psychotherapie.“ Diversen Tipps aus der Heilpraktiker-Szene sprach der Fachmann zwar jegliche wissenschaftliche Beweisbarkeit ab, erkannte aber eine generelle Placebo-Wirkung als möglichen Heileffekt an.

Werden wir zur Gesellschaft der Angst?

„Unser Angstsystem ist sehr primitiv“, was uns schnell erregt, verliert sich auch bald wieder, also muss der Trend nicht anhalten. Allerdings überschätzen wir gerne negative Ereignisse, wenn diese die Urängste ansprechen: „Angst ist kein guter Statistiker.“ Auch ist die Angst vor Neuem, Unbekanntem immer unbeherrschbarer als die vor bekannten Gefahren. Das spielt der gesamten Gesellschaft gerne üble Streiche bis in die Politik hinein: Wenn Donald Trump die Einwanderungsgesetze aus Angst vor islamistischem Terror ändert, übersieht er glatt, dass 2016 in den USA nur zwei Todesfälle durch islamistische Einwanderer verursacht worden sind. Neun Tote gingen auf das Konto von einheimischen Extremisten und 11.737 Menschen sind durch andere Amerikaner erschossen worden, was der Liebe zu den altbekannten Waffen aber weiter keinen Abbruch tat.

Aber dieser Fehleinschätzung unterliegen wir alle: „Hitze gefährlicher als Terror“, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben 43 Prozent der Deutschen, die trotzdem viel mehr Angst vor Flugzeugabstürzen, Kokosnüssen oder Eselstritten im Urlaub haben, anstatt sich vernünftig zu ernähren oder vorsichtiger mit dem Auto zu fahren.

Allgemein wird daher auch ein höherer Aufwand betrieben, um den erreichten Status Quo zu erhalten, als die Situation (positiv) zu verändern. Es ist allerdings ein Nord-Süd-Gefälle im Verhalten der Menschen zu beobachten, die der Referent als Folge der Evolution einstufte: „Eine ‚German Angst‘ gibt es nicht“, aber die Bewohner der nördlichen Länder sparen mehr Geld, haben mehr Versicherungen und weniger Verkehrstote als ihre Artgenossen in Äquatornähe. Vermutlich konnten sich nur die ängstlicheren und damit vorsorglicheren Charaktere im zunehmend unwirtlichen Norden ansiedeln, während die unbedarften im warmen Süden die Oberhand behielten.

Belohnungssystem im Kopf

Wie merkwürdig das menschliche Angstsystem funktioniert wird deutlich, wenn man sich vorstellt, wie viele Menschen neben ihrer Versicherung auch den Lotto-Schein pünktlich bezahlen. Ähnlich unstimmig funktioniert auch das Glücksgefühl der Börsianer, die Stimmung bei steigenden Kursen nach einem Einbruch ist immer besser als wenn der Dax – auch auf hohem Niveau – steht. Schuld daran ist ein „Belohnungssystem im Kopf“, das der Mensch unter anderem mit Ratten gemeinsam hat. Drogenähnliche Wirkung entfalten nämlich körpereigene Stoffe, Endorphine, deren Ausschüttung durch Verhalten bewirkt werden.

Grundsätzlich gibt es diese Belohnung für jede Triebbefriedigung wie zum Beispiel Nahrungsaufnahme, womit schon klar wird, wie wichtig diese Triebfeder auch für das Überleben ist. Mal ehrlich: Wer würde sich schon mit der jahrelangen Aufzucht von Nachwuchs belasten, wenn die Anfangsphase nicht so lustvoll wäre? Aber auch Angst löst dieses Belohnungssystem aus, nämlich dann, wenn eine kurze Phase der Angst überstanden ist, ähnlich wie eine Anstrengung beim Sport: „Joggen ist effektiver als Yoga“ – und ein Auftritt vor großem Publikum macht glücklich, vor allem, wenn er vorüber ist, vorher herrscht bekanntlich Lampenfieber.

Das Gehirn kennt diesbezüglich zwei Ebenen: Belohnungs- und Angstsystem widersprechen sich „wie Christ und Antichrist“, darüber steht das „Vernunftgehirn“ und soll zwischen beiden vermitteln. Gelingt dies längerfristig nicht, spricht man von Trieb- und Angststörungen, im Normalfall erklärt dieses Modell aber auch gelegentliche Schwankungen recht gut.

Angst verbessert Leistungen

Längst in der Gesellschaft verankert sind Rituale wie Bungeespringen oder Besuche von Erlebnisparks, um durch einen kurzen Moment der Angst die Selbstbefriedigung durch das Belohnungssystem zu genießen. Auch der Konsum von Krimis oder Katastrophennachrichten kann diesen Effekt nachahmen, nach dem Muster mehr Angst = mehr Belohnung. Wie so oft im Leben ist aber auch hier die Überdosis ungesund, zu viel Angst kann lähmen, und das gerne auch noch im falschen Moment.

An dieser Stelle sei besonders Jugendlichen und ihren Erziehungsbeteiligten die Erkenntnis ans Herz gelegt, dass gerade viele Prominente davon profitiert haben, dass sie solche lähmenden Ängste in ihren jungen Jahren überwunden haben, allerdings war das auch harte Arbeit. Päpste, Polarforscher, Computergenies und natürlich Film- und Bühnenstars haben das schon eingestanden, nur bei den Literatur-Nobelpreisträgern zeichnet sich ein Trend zum Alkoholismus ab, der für unbewältigte Ängste spricht. Vielleicht ist das Schreiben da keine gute Therapieform? (Verspüre zum Ende des Artikels zunehmend Durst, werde mich beim Nobelkomitee melden, Anm. d. Red.).

Ob in der Erziehung oder im Beruf, sogar für die Freizeitgestaltung lässt sich mit Sicherheit eines festhalten: Angst muss nicht lähmen, sondern kann beflügeln. Wie so oft kommt es wieder einmal auf die richtige Dosis an, die besten Leistungen werden auf einem mittleren Angstlevel erbracht, dazu sollten sich Waldorfschulen und Eliteinternate einmal zusammensetzen, gerne auch mit Vertretern der Wirtschaft. „Verwenden Sie mehr Zeit für das Erzielen eines Erfolges als für die Vermeidung eines Misserfolges“, rät Borwin Bandelow, denn wenn man die Gefahren richtig einschätzt, ist „Angst Superbenzin für den Erfolg.“ – Ergänzende Informationen und hervorragendes Bildmaterial zum Thema bei: „Asterix und die Normannen“.



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