„Kein Kind darf verloren gehen!“ Professor Salgo sprach im Königsteiner Salon

Königstein (pf) – „Ich habe nicht unbedingt gute Nachrichten und werde ihnen einiges zumuten.“ So begann Professor Dr. Ludwig Salgo, Jurist und seit vielen Jahren im Deutschen Kinderschutzbund aktiv, am Dienstagabend beim 23. Königsteiner Salon seinen Vortrag im Haus der Begegnung. Es waren tatsächlich zum Teil erschreckende Erkenntnisse, die der „Anwalt der Kinder“, wie ihn Sophie von Ilberg, die Vorsitzende des Frankfurter Kinderschutzbundes in ihrer Vorstellung nannte, den Gästen berichtete. „Misshandelt Deutschland seine Kinder?“ lautete die provokative Frage, zu der der Professor für Familien- und Jugendrecht an der Fachhochschule Frankfurt und außerplanmäßige Professor an der Goethe-Universität im Fachbereich Rechtswissenschaft, referierte.

Anhand eines „Verwirrogramms“, wie er es bezeichnete, machte er deutlich, wie unendlich viele Personen, Ämter und Organisationen im Fall Kevin in Bremen beteiligt und eingebunden waren. Aber sie konnten nicht verhindern, dass der Junge nur zweieinhalb Jahre alt wurde. Völlig unterernährt war er 2006 tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Vaters gefunden worden. Ein 500 Seiten starker Untersuchungsbericht, der im Auftrag des Bremer Senats den erschreckenden Fall aufarbeitete, machte deutlich, dass viele Ämter nicht nur versagt, sondern manchmal sogar gegeneinander gearbeitet hatten. Dass ein Amtsvormund, der sich bis dahin nicht selten um 240 Kinder gleichzeitig zu kümmern hatte, jetzt nur noch maximal 50 Mündel haben darf, ist das einzige positive Resultat aus diesem Fall.

In einem anderen Fall waren die Mitarbeiter der Familienhilfe, wie sich später herausstellte, nie im Kinderzimmer, berichtete Professor Salgo. Die Mutter sei doch so verständnisvoll und nett gewesen, rechtfertigten sie sich später. Und die dreijährige Yagmur aus dem Hamburger Stadtteil Billstedt, die im Dezember 2013 an schweren inneren Verletzungen starb, hatte schon vorher durch Misshandlungen ihrer Eltern 83 Verletzungen davon getragen. Dennoch war sie aus ihrer Pflegefamilie genommen und ihren Eltern zurückgegeben worden.

„Es ist einiges in Bewegung geraten“, sagte der Anwalt. Die erschreckenden Fälle von Kindesmisshandlungen in den letzten Jahren hätten zu einem Aufbruch geführt, wie es ihn zuvor noch nie gab. „Aber die Kommunikation untereinander bleibt mangelhaft.“ Daran beteiligt seien ausschließlich Erwachsene, nicht die betroffenen Kinder. Und oft laufe es auf das Ergebnis hinaus: Die anderen werden sich schon darum kümmern. Armut sei nicht gleichbedeutend mit Kindesgefährdung, aber Armut fördere Vernachlässigung und Misshandlungen. Bildung und materielle Sicherheit seien die besten Garanten für das Wohl der Kinder. Die deutsche Geschichte wirft lange Schatten, weiß Professor Salgo. Das Recht der Eltern zähle in Deutschland immer noch mehr als das Recht eines Kindes. Noch heute gelte in Deutschland: Kinder sind Privatsache der Eltern. Viele andere Länder, betonte er, sähen das viel unverkrampfter. Und dass Familienrichter für ihr verantwortungsvolle Aufgabe keine Fortbildung zum Thema häusliche Gewalt nachweisen müssen, sieht er ebenfalls als Folge der deutschen Geschichte. Danach sind Richter unabhängig und an keine Weisungen gebunden. Dabei seien sie es, die Kinder zu befragen und letztendlich zu entscheiden hätten, was mit einem Kind geschieht, ob es zu seinem Wohl aus der Familie genommen und zu einer Pflegefamilie oder in ein Heim kommt oder bei den Eltern bleibt. Daher müsse gerade ein Familienrichter sich in der schwierigen Materie auskennen.

Dass sich von 2002 bis 2010 in den Statistiken die Zahlen von Vernachlässigungen von Kindern verdoppelt haben, bedeute nicht, dass die Fälle tatsächlich drastisch zugenommen hätten, sagte Professor Salgo, sondern dass das Dunkelfeld kleiner geworden sei. Je früher die Hilfe für Mütter und Väter einsetzt, desto wirksamer könne Kindern geholfen werden, sagte der Rechtswissenschaftler. Inzwischen würden oft schon Schwangere in die Betreuung einbezogen. Investitionen im frühen Kindesalter seien wesentlich ökonomischer und wirkungsvoller als spätere, hob er hervor. Aber das Verhältnis von Eltern, Kind und Staat bleibe eine Gratwanderung.

Wirkungsvolle Hilfe könnten nur Netzwerke schaffen, in denen jeder wissen müsse, an wen er sich wenden und im Zweifelsfall verweisen könne. Interdisziplinäre Zusammenarbeit, qualifizierte Diagnostik zur Einschätzung des Gefahrenrisikos und rechtzeitige Hilfeplanung nannte er als unabdingbare Voraussetzungen, dass sich die Situation für gefährdete Kinder verbessert. „Denn kein Kind darf verloren gehen, das können wir uns angesichts der demografischen Entwicklung gar nicht leisten.“

In der anschließenden lebhaften Diskussion schilderten einige der oft selbst im Kinderschutz engagierten Besucher persönliche Erfahrungen, monierten, dass es keine Fachaufsicht für Jugendämter gibt und Landesjugendämter abgeschafft wurden. Beklagt wurde ein Mangel an struktureller Aufsicht. Und Professor Salgo machte sich Sorgen, dass es allein in diesem Jahr sechs höchstrichterliche Entscheidungen gegeben hat, die Elternrechte stärken. Der Forderung, Kinderrechte explizit ins Grundgesetz aufzunehmen, steht er allerdings skeptisch gegenüber. Sie seien im Grundgesetz bereits verankert, müssten allerdings auch wahrgenommen werden. Denn in Artikel 6 Absatz 2 heißt es ausdrücklich: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Diese Aufgabe müsse die Gesellschaft zum Wohle der Kinder allerdings auch wahrnehmen.

Dr. Martin Kasper bedankte sich bei dem Referenten für die Tiefe und Intensität, aber auch für das fundierte Fachwissen, mit dem er das schwierige Thema beleuchtete und darstellte. Es sei erschreckend, dass im reichen Deutschland so viele Kinder durch häusliche Gewalt sterben. In Nordost-Indien, wo sich seine Stiftung Childaid Network für Kinder engagiert, erreichen in den Stammesgebieten 40 Prozent der Kinder nicht das sechste Lebensjahr. Dort sind vor allem Hunger, Krankheiten und fehlende Infrastruktur für ihr Sterben verantwortlich. Der Tod von Kindern in Deutschland, die durch Vernachlässigung oder Misshandlungen sterben, sei dagegen ein Zeichen von mangelnder Aufsicht und fehlender Verantwortung der Gesellschaft. Dass hierzulande mehr Menschen Mitglieder in Tierschutzvereinen als in Kinderschutzorganisationen sind, sei dafür ein bezeichnendes Indiz.

Professor Dr. Ludwig Salgo, engagierter Jurist und Kinderschützer, referierte beim Königsteiner Salon im Haus der Begegnung über Kindesmisshandlungen und die jüngsten Entwicklungen in Politik und Gesellschaft zu diesem brisanten Thema.

Foto: Wittkopf



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