„Wenn Kinder in die Schule kommen, ist es zu spät“

Professor Dr. Andreas Gold von der Goethe-Universität Frankfurt, Gastredner des Königsteiner Vereins Leselust, ermutigt Eltern und Lehrer zur Förderung von mehr Lesekompetenz bei Schülern, nachzulesen in seinem Buch: „Lesen kann man lernen“. Foto: Sura

Königstein (aks) – „Lesen kann man lernen“, so lautete der Vortrag des Professors für pädagogische Psychologie, Andreas Gold von der Goethe-Universität Frankfurt. Er hat jahrelang zu diesem Thema geforscht und weiß, wovon er spricht. Seine wissenschaftlichen Arbeitsgebiete sind Lehr-Lern-Forschung und die Erforschung der Wirksamkeit pädagogischer Interventionen sowie Entwicklung und Evaluation von Programmen zur Förderung der Lesekompetenz. Sein Buch „Lesen kann man lernen“ hatte er für sein wissbegieriges und leseaffines Publikum dabei, vor allem waren Frauen in die Stadtbibliothek gekommen, ein einzelner Mann war dabei.

Dr. Sabine Ruoff, stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Leselust“, begrüßte die Koryphäe auf diesem Gebiet und wünschte allen Beteiligten „Wissenszuwachs“. Der Verein setzt sich dafür ein, die Rolle der Bibliothek als Kommunikationszentrum und Treffpunkt weiter auszubauen. Schwerpunkt sind viele Veranstaltungen wie Lesungen und Besprechungen, Vorträge und Gesprächsrunden, die ein begeistertes Publikum finden. Auch Lesestunden für Kinder finden in der Stadtbibliothek statt.

Prof. Gold machte von Anfang an klar, dass Lesen nur durch Anleitung möglich sei: lesen und schreiben sei ohne Unterweisung nicht denkbar. Die Voraussetzung dafür sei die Sprache. Kinder mit Sprachproblemen kämen auch beim Lesen nicht weit, und so scheiterten bereits 20 Prozent der Kinder in der Grundschule beim Lesen und allem, was damit zusammenhängt.

Vorlesen so früh wie möglich

Die beste Methode der Leseförderung sei das Vorlesen. Er rät Eltern, so früh wie möglich damit zu beginnen, bereits ab einem Jahr: „Je früher desto besser“. Der regelmäßige zugewandte Dialog mit dem Kleinkind fördere das Sprechen und später auch die Lust am Lesen. Das Kind genieße bei diesem Ritual die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern, es werde ermutigt, zu sprechen und von sich zu erzählen – ohne das Kind zu überfordern, komme es zur Ruhe. Vater und Mutter erführen so in entspannter Atmosphäre, wie es ihrem Kind geht.

Die Geschichten, die dabei vorgelesen werden, sollten altersgerecht sein, damit sie verstanden werden. So entstehen Bilder und Emotionen, sogar Voraussagen über das Geschehen könnte ein Kind früh begreifen: „Das ist beeindruckend“.

Es leuchtet ein, dass bei mangelnder Zuwendung jegliche frühkindliche Förderung nicht fruchten kann. „Der Elefant im Raum ist die Familie“, so beschreibt es Gold sehr bildlich. Letztendlich habe niemand Zugriff auf die Eltern. Die müssten selbst verstehen, dass eine frühe Sozialisation zu besseren Schulnoten führe.

Lesekompetenz

Mit dem sogenannten „Cambridge Text“ veranschaulichte er eindrucksvoll, wie schnell das Gehirn gelernte Worte automatisch erfasst und richtig kombiniert. In dem Text sind bei jedem Wort alle Buchstaben vertauscht, außer den Anfangs- und Endbuchstaben. Der Text konnte dennoch flüssig vorgelesen werden. Das sei der Beweis, dass nicht nur der Text vom Gehirn erfasst wird, sondern das Gehirn auch Informationen sendet: da genügen ein paar Buchstaben und schon hat man das Wort beim Lesen parat.

Während in den ersten beiden Schulklassen die Sprache der Kinder über die Fertigkeit beim Lesen entscheide, sei es ab der 4. Klasse möglich, dank der Automatisierung im Gehirn selbst zu lesen. Im Alter von neun Jahren müssten nicht mehr einzelne Buchstaben zu einem Wort zusammenaddiert bzw. Wörter decodiert werden, wie es Gold beschreibt – das fördere den Lesegenuss. „Wer viel liest, erfährt auch immer mehr Befriedigung beim Lesen!“

Er bedaure außerordentlich, dass es keine Leseförderung ab den 5. Klassen mehr gebe, denn ob Hauptschule, Realschule oder Gymnasium, das Lesen werde vor allem in der Pubertät stark vernachlässigt. „Wenn dann noch Leseprobleme auftreten, führt das zu einer Leseverweigerung“: „Ein Drittel aller Jugendlichen von 15 Jahren gibt an, dass sie freiwillig nicht lesen“. Sein klares und unerbittliches Fazit: „Die Lesefreude wächst aus der Lesekompetenz – deshalb müssen wir alles tun - whatever it takes!“,

Lesemethoden

In die Pflicht nimmt er die Eltern und die Lehrer. Das Vorlesen im Kleinkindalter in der Familie sei nun mal die Voraussetzung für Lesekompetenz. Ein Kind sollte in der Grundschule in der Lage sein, mühelos, unbewusst, autonom, genau, automatisch und schnell zu lesen und dabei noch sinnstiftend zu betonen. Wenn in dieser Reihe etwas stockt und schief läuft, würden viele freiwillig nichts mehr lesen: „Es braucht dann zu viel Energie für die Decodierung!“ Wenn ein Schüler in der vierten Klasse nicht flüssig lesen könne, brauche er Förderung. Er rät auf Nachfrage aus dem Publikum jedem Elternteil und Lehrern, Fehler sofort zu berichtigen.

Lautlesetandem

Die wirksamste Methode, die Gold selbst getestet und erlebt hat, ist das „Lautlesetandem“. Die Lesekompetenz werde trainiert, indem laut vorgelesen wird und zwar nicht allein, sondern zu zweit, sozusagen im Chor. Golds Metapher lautet so: „Singen im Chor macht Spaß, allein ist es schwer“. Das Tandem setzt sich aus einem schwächeren Schüler, der nicht flüssig liest, und einem stärkeren Schüler, der als Trainer fungiert, zusammen. Wie im Sport darf der Trainer „seinen Sportler“ korrigieren. Niemand werde dabei bloßgestellt, denn „Trainer“ und „Sportler“ lesen gemeinsam vor. Die Korrektur sei dabei entscheidend. Das habe sich in der Praxis bewährt und mache vor allem in den Klassenstufen 3 und 4 Sinn. Prof. Gold insistiert: „Wer nicht lesen lernt, wird Leseanlässen aus dem Weg gehen.“ Die Fakten zur Lesesozialisation sind erschreckend: Nur 16 Prozent der Kinder bekommen einmal in der Woche vorgelesen, 30 Prozent fast nie, 26 Prozent täglich. Problematisch fürs Lesenlernen seien mangelnde Bildung, ein schwaches Sozialniveau und mangelnde Ressourcen. Nicht die Zweisprachigkeit sei das Problem, sondern Defizite in der deutschen Sprache.

Die „Loser“, wie Gold sie nennt, seien männlich, aus sozial prekären Elternhäusern und Zuwanderer. Viele werden an die elektronisch technischen Medien verloren – das mache einfach mehr Spaß. Bedauerlicherweise sei das deutsche Bildungswesen mitverantwortlich, bedauerlicherweise schiebe jeder die Verantwortung auf den anderen: Die Universität schätzt viele Schüler als nicht studierfähig ein, das Gymnasium sieht Probleme in der Grundschule und die Grundschule in der Vorbereitung im Kindergarten.

Lassen Sie sich helfen!

Die Unruhe und die Spannung wächst bei den teilnehmenden Frauen, die meisten Mütter und Großmütter, aktuelle Lehrerinnen und ehemalige. Man spürt die Sorge, man könne Defizite beim eigenen Kind übersehen und es dann nicht adäquat fördern. Die Frage, wann man denn fördern solle, wenn man stockendes Lesen oder Leseunlust bemerke, brennt doch ziemlich vielen auf den Nägeln. Der kluge Professor legt den besorgten Müttern vor allem eins ans Herz: „Machen Sie sich nicht zum Nachhilfelehrer Ihrer Kinder! Wecken Sie keine unangenehmen Gefühle!“ Alle Anwesenden, denen das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt und die zu der überdurchschnittlich gebildeten Schicht gehören, hören zwischen den Zeilen, dass es um die bedingungslose elterliche Liebe geht. Wie schwer das sein kann, merkt man ja dann, wenn Kindern etwas schwerfällt, wie die Schule. Das Kind sollte vertrauen können und nicht ständig gecoacht werden. Andreas Gold bringt es mit dem Beispiel der Kinderärztin auf den Punkt: Die schmerzhafte Impfung verabreiche stets die Assistentin, nie die Ärztin selbst.

Daraufhin herrscht ein wenig Ratlosigkeit, alle sind ja unter anderem erschienen, weil sie das Beste für ihr Kind wollten. Gold rät: „Lassen Sie sich helfen!“ Ältere Schüler, Abiturienten und Studenten seien besser geeignet als ungeduldige und ehrgeizige Eltern. Der Pädagogik-Professor spricht weise Worte gelassen aus, die in Zeiten von permanentem Leistungsdruck schwer zu verinnerlichen sind. Gelassenheit täte vielen Eltern gut und von den Schulen wünscht er sich Leseförderung mit den richtigen Methoden, auch über die Grundschule hinaus – Lesespaß ohne Förderung der Lesekompetenz werde es nicht geben. Das werden vor allem die Bücherwürmer bedauern, die gern und häufig in der Stadtbibliothek ein- und ausgehen, dank bester Beratung von Leiterin Simone Hesse immer mit einem spannenden Buch in der Hand.



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