Migräne-Klinik: Ein Stern am deutschen Klinikhimmel

Das Behandlungsspektrum der Migräne-Klinik im Öhlmühlweg 31 gibt es so kein zweites Mal in Deutschland. Fotos: Schramm

Königstein (as) – Es gibt viele verbreitete Vorurteile in unserer Gesellschaft. Die Kollegin oder der Kollege habe „mal wieder Migräne“ heißt es dann schulterzuckend oder auch kopfschüttelnd, warum der Arbeitsplatz nebenan an diesem Tag unbesetzt und die Arbeit liegen bleibt – zum wiederholten Mal. Experten wissen, dass solche Vorurteile unberechtigt sind, denn eine Migräneattacke, die mehrere Tage andauern kann, ist etwas völlig anderes als etwa ein Brummschädel nach zwei Gläsern Wein zu viel am Abend zuvor. „Migräne ist ein medizinisches Thema“, sagt Dr. Caroline Jagella, die Chefärztin der Migräne-Klinik Königstein. Und Migräne sollte behandelt werden, spätestens, wenn die Frequenz bei zwei bis drei Anfällen im Monat liegt. Migräne geht oft mit fast unerträglichen, einseitig verstärkten Cluster-Kopfschmerzen einher, ein Anfall kündigt sich meist durch Lichtempfindlichkeit und erhöhte Reizbarkeit des Betroffenen an. In schlimmen Fällen wird sie von einer sogenannten Aura mit Flimmern und Sehstörungen, von Übelkeit und Erbrechen begleitet.

Ohne achtsame Prävention und rechtzeitige Behandlung bei Verschlimmerung der Symptomatik bestehe zum einen die Gefahr, dass der Betroffene und dessen Umfeld deutlich an Lebensqualität einbüßen und der Patient zum anderen durch übermäßige Einnahme von Schmerzmitteln – durch den Drang zum „Funktionieren“ – in ein Burnout rutscht, so Jagella. Denn, auch das muss bei allen Vorurteilen oder besser aller Unkenntnis gesagt werden: Migräne zählt zu den Volkskrankheiten. 30 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer haben damit mehr oder weniger häufig zu tun. Millionen von Arbeitsstunden gehen in Deutschland jedes Jahr durch Migräne verloren. Und nur das nehmen die Kollegen oder der Chef wahr ...

Jagella ist seit September 2022 Jahren die Chefärztin der Migräne-Klinik im Ölmühlweg, die seit fast 50 Jahren sich auf diesem Gebiet bundesweit einen Namen gemacht hat. Gegründet wurde die Klinik 1977 als Klinik Dr. Brand von Joachim Brand in einem Gebäude aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, das zuvor als Kaltwasser-Heilungsanstalt fungierte. Dem Gründer, seinen Söhnen Ronald und Jan sowie den Ärzte- und Therapeutenteams ist es zu verdanken, dass das Thema Migräne stärker ins Bewusstsein gerückt wurde. „Migräne ist eine angeborene Erkrankung, auch wenn sie nicht 1:1 vererbt wird“, erklärt Dr. Jagella, die in Freiburg promoviert hat, dann rund 15 Jahre lang in der Schweiz praktiziert und weiter am Thema geforscht hat. Und es gebe evidenzbasierte, international festgelegte Leitlinien zur Behandlung.

Und doch ist die Migräne-Klinik in Königstein trotz des unverkennbar hohen Bedarfs ein Unikum in der deutschen Kliniklandschaft geblieben. Die hochspezialisierte medizinische Akutklinik mit 54 Betten, aktuell sechs Ärzten und rund 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit angegliederter Reha ist nicht nur die erste Reha-Klinik für Migräne in Deutschland, sie hat eine riesige Lücke geschlossen. Jagella erklärt, wie schlecht Betroffene in einem normalen Krankenhaus und selbst in der Uniklinik Frankfurt aufgehoben seien. „Die Diagnose Migräne ist über Nacht nicht möglich.“ Wer mit einem schweren Anfall eingeliefert werde, erhalte eine Infusion, und wenn kein Schlaganfall oder eine Hirnhautentzündung festgestellt würden, falle der Patient durchs Raster.

Umso überraschender, dass es auch nach fast 50 Jahren mit der Kopfschmerzklinik in Kiel bundesweit nur ein Pendant gibt zur Migräne-Klinik Königstein, welche freilich wesentlich breiter und interdisziplinär aufgestellt ist. Neurologie, Anästhesie, allgemeine Schmerztherapie wirken zusammen, das Gefäßtraining im Kneipp-Tretbecken und der Barfußpfad im Garten sind ebenso wichtige Bestandteile der Therapie und Rehabilitation wie Qi Gong und Yoga und auf dem Gebiet der Ernährung die Mayr-Diät und die noch recht neue ketogene Diät. „Rund 30 Prozent der Migränepatienten sind ernährungstechnisch einstellbar“, sagt Jagella. Die ketogene Diät, die Kohlenhydrate und damit Zucker (ein Trigger von Migräne) reduziert, sei „ein großes Thema“. Das Haus hat sich deshalb auch eine Ernährungsmedizinerin geleistet.

Die Klinik ist zudem mit modernsten Diagnoseverfahren wie EMG, EEG und Ultraschall ausgestattet und kooperiert mit anderen Kliniken, unter anderem mit dem Klinikum Frankfurt-Höchst sowie mit ambulanten Ärzten.

Stationär und jetzt auch ambulant

Und, so könnte man jetzt meinen, sie steht vor allem Privatpatienten offen. Und genau das ist nicht der Fall. Der Anteil von Kassenpatienten liegt bei 90 Prozent. „Unser Anspruch ist, die Therapie für die Allgemeinheit anzubieten“, sagt Klinik-Geschäftsführer Vincent Sternberg. Die Migräne-Klinik ist bei allen gesetzlichen und privaten Krankenkassen zugelassen und es besteht Beihilfefähigkeit. Um die stationäre Vorsorge beantragen zu können, muss ein neurologischer Befund vorliegen, zum Beispiel ein chronischer Verlauf der Migräne, eine sich verschlimmernde Kopfschmerzerkrankung oder auch neurologische Ausfallerscheinungen, etwa bei hohem Blutdruck.

Zudem baut die Migräne-Klinik derzeit ihr ambulantes Angebot für Selbstzahler aus, das an die modulare Akuttherapie mit einem ganz ähnlichen Programm angedockt ist.

Das Klinikteam will die Menschen aus ihrem Schmerzkreislauf herausholen. „Das Ziel ist, vom ersten Tag an, Autonomie zurückzuerlangen, zu wissen, dass man etwas tun kann. Das muss man lernen“, erklärt Caroline Jagella. Es werde in den Gruppen sehr viel kommuniziert, es gehe – später auch im Alltag wichtig – um eine regelmäßige Tagesstruktur und einen geordneten Schlaf-Wach-Rhythmus oder darum, Migräne-Trigger wie zu wenig Trinken zu erkennen. Zudem empfiehlt die Expertin auch zur generellen Prävention ein aerobes Ausdauertraining von 20 bis 30 Minuten an fünf Tagen sowie eine aktive Entspannungstherapie an drei bis fünf Tagen in der Woche.

Im Übrigen würden die stationären Patienten der Migräne-Klinik nicht eingesperrt. Es gebe eine Nordic-Walking-Gruppe, die Patienten seien gerne im Woogtal oder in der Stadt unterwegs und nutzten Kultur- und Sportangebote. „Nur jeden Tag mit dem Bus ins MTZ zu fahren, empfehlen wir nicht“, sagt die Expertin. Das sei auch schon vorgekommen, aber doch eher kontraproduktiv.

Wichtiges grünes Umfeld

Königstein biete einfach ein perfektes Umfeld, um zu genesen. Das und natürlich die Klinik selbst habe auch sie persönlich angesprochen, als sie sich vor drei Jahren für die freie Stelle bewarb, erzählt Jagella. Die Patienten, die ob der Spezialisierung der Klinik aus ganz Deutschland und teilweise auch aus dem Ausland kommen, seien „begeistert“ vom schönen, grünen Umfeld – das möglichst auch so erhalten werden soll, da sind sich Jagella und Sternberg einig.

Die aktuell von der Stadtverordnetenversammlung zwar leicht reduzierte, aber grundsätzlich beschlossene Nachverdichtung südlich des Ölmühlwegs sehen Sternberg und Jagella mit Skepsis, denn sie haben die hoch umstrittene Fällung des Mammutbaums knapp hinter der Grenze zum Nachbargrundstück im Jahr 2023 noch in schlechter Erinnerung. Der Baum, der noch mehrere Hundert Jahre hätte weiterleben können, musste für einen Wohnungsneubau weichen, der mit drei Einheiten am Ende auch voluminöser ausgefallen sei, als es der Käufer des Grundstücks, das Gemeinnützige Siedlungswerk der katholischen Bistümer, angekündigt hatte. Dabei setzt die Klinik auch zu Therapiezwecken sehr auf ein natürliches Umfeld, das im eigenen, von der Straße abgewandten Garten durchaus auch weiterhin gegeben ist. Aber im Klinikbetrieb muss man verständlicherweise auch sehr sensibel hinsichtlich der unmittelbaren Nachbarschaft sein. Man sei im Hinblick auf weitere mögliche Veränderungen im Ölmühlweg mit dem Bauamt im Gespräch, versichert Sternberg.

Gesundheitstag vorgeschlagen

Vielmehr als Einschränkungen am Standort zu erleben, würde die Klinikführung und die ärztliche Leitung sehr gerne die Bedeutung des Hauses unter Einbeziehung der vier anderen hochspezialisierten Fachkliniken der Stadt gemeinsam mit der Verwaltung herausarbeiten. Man könnte den „Kurgedanken“, der ihm im Alltag in Königstein viel zu wenig gelebt werde, „wunderbar ausbauen“, schlägt Vincent Sternberg vor. Als er vor zwei Jahren die Klinik übernahm, hatte er auch schon einen Vorstoß bei der Stadtverwaltung gemacht und einen Gesundheitstag angeregt. Dazu steht er noch immer und würde das Thema gerne noch einmal anpacken. „Wir haben hier eine Klimakommission in der Stadt, wir könnten die Idee der Prävention ganzheitlich anpacken und auch mit dem Thema Ernährung kombinieren“, so Sternberg.

Vielleicht wäre so auch eine Antwort auf die Frage zu finden, die immer mal wieder zu hören ist: „Für was steht Königstein eigentlich?“ Die Tradition der Kur könnte jedenfalls eine tragende Rolle dabei spielen.

 

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