Radler und Äppler – Mammolshain feiert den 1. Mai

Volksfeststimmung: Als Lokalmatador John Degenkolb (rechts) mit dem Belgier Warre Vangheluwe zwei Mal als Führender den Mammolshainer Berg überwindet, kocht die Stimmung über. Am Ende bleibt dem Oberurseler neben Platz 76 der Sieg der Bergwertung.  Fotos: Schramm

Mammolshain (as) – Sie feiern oben auf dem Berg. Dort wo die Radprofis und Hobbyfahrer richtig leiden müssen, macht das Zusehen am meisten Spaß – am steilsten Anstieg beim Klassiker Eschborn–Frankfurt in der Einbahnstraße „Am Steinbruch“. Die einen auf zwei Rädern können sich oben auf dem Kranichplatz keine Pause gönnen, sie müssen weiter bergauf Richtung Königstein, die Uhr tickt. Die vielen 100, vielleicht sogar mehr als 1.000 Fans, die sich hier ihren Lieblingsplatz gesichert haben, wenden sich wieder den Bewirtungsständen der Freiwilligen Feuerwehr Mammolshain zu und warten auf die nächste Durchfahrt des Feldes.

Und sie feiern unten im Tal in der Schwalbacher Straße an und in der Halle des Obst- und Gartenbauvereins Mammolshain, wo an diesem Tag der Mammolshainer Apfelweinkönig gekürt wird. Auch hier ist jeder Platz besetzt, lange Schlangen gehören dazu, um endlich seinen goldig schimmernden Äppler im Gerippten in der Hand zu halten – vom guten Obst der Mammolshainer Streuobstwiesen.

Viele pendeln zu Fuß und mit Rädern hin und her, um beide Großereignisse mitnehmen zu können, das Auto lässt man an diesem Tag lieber stehen. Keine Frage: Der 1. Mai ist der Tag des Jahres in Mammolshain. Das ganze Dorf und mindestens genauso viele Gäste sind auf den Beinen – manche kommen sogar von weit her. Aus Marburg sind die drei Freundinnen Annika, Lea und Johanna angereist, mit dem Fahrrad haben sie sich aus Oberursel irgendwie durchgeschlagen. Jetzt stehen sie oben am Ende der gemeinen Rampe und feuern die Hobbyfahrer an. Annika hat sogar ein Megaphon dabei und macht mit „Super, weiter, weiter, zieht durch“ allen Mut, dass der Berg gleich geschafft ist. Manche geben beim Vorbeifahren sogar High-Five. „Girls Power“ steht auf ihrem Plakat. Ein wenig bedauern die Drei, dass unter den Hobbyfahrern der Skoda Velotour, die mit 10.000 Teilnehmenden einen neuen Rekordwert erreicht hat, nicht mal zehn Prozent Frauen seien. Ihre persönlichen Favoriten Kjell und Michael sind jetzt im letzten Fünftel des Feldes längst durch, auch das Trio will weiter Richtung Eschborn, dem Ziel der Jedermänner und -frauen und dem gemeinsamen Treffpunkt.

Auch am Königsteiner Kreisel werden fest die Daumen gedrückt: Die Fans des „Teams Tecan“ feuern gleich sechs Aktive bei der Velotour an. Sie kommen aus Königstein und Eppstein, „Vroni“ ist sogar aus Österreich angereist, um am 1. Mai im Taunus auf dem Rad echtes Rennfeeling zu erleben. Die Schnellsten des Teams sind schon im Ziel und tauschen sich am Telefon mit den Liebsten aus. „Es war mega, phantastisch, ich bin super zufrieden“, sprudelt Olivier Hervé durch den Hörer. Er hat die längste Strecke von 103 Kilometern mit einem beachtlichen Schnitt von 28,5 km/h bewältigt – bei mehr als 1.300 Höhenmetern. Glückshormone kann man sich ganz gewiss auf dem Rennrad holen, sein privates Glück hat Hervé ebenfalls in Königstein gefunden, der Liebe wegen ist er von Berlin in den Taunus gezogen.

Zurück in Mammolshain: Jetzt ist es nicht mehr lang und die Profis kommen bei ihrem 203,8 Kilometer langen Rennen der World Tour, der höchsten internationalen Kategorie, das erste Mal über den Mammolshainer Berg. Die Videowand zeigt es seit mehr als zwei Stunden und sorgt für Stimmung: John Degenkolb aus Oberursel, in seinem ersten Profijahr 2011 bereits Sieger bei Eschborn–Frankfurt und fraglos der absolute Favorit der Mehrheit der Zuschauer, fährt in einer kleinen Spitzengruppe gut fünf Minuten vor dem Feld. Der Kranichplatz füllt sich. Die ehemaligen Rennchefs Bernd Moos-Achenbach und Claude Rach haben sich hier auch getroffen und diskutieren die unerwartete Rennsituation. „Der John macht das heute“, glaubt Moos-Achenbach, Sohn der Renngründers im Jahr 1962, Hermann Moos. Der Luxemburger Rach ist da neutraler: „Das wird schwierig. Ich denke, er fährt für Frank van den Broek.“ Der Niederländer ist der stärkste Fahrer im Team DSM-Firmenich im bergigen Gelände.

Und dann sind sie da: ein Aufschrei und Riesenjubel der Fans, als John Degenkolb und der Belgier Warre Vangheluwe dynamisch im Wiegetritt über die Kuppe des „Mammolshainer“ drücken. Bei den Könnern sehen 20 Steigungsprozente fast leicht aus. Degenkolb-Manager Florian Jöckel läuft ein paar Meter nebenher und ruft Informationen zu. „John geht heute auf die Bergwertung, über mehr können wir vielleicht spekulieren, wenn sie mit Vorsprung über den Feldberg kommen“, sagt Lifestyle-Radfahrer und Unternehmer Jöckel und relativiert die Chancen durch die zwei Wochen Trainingspause, die „Dege“ nach einem Sturz bei seinem Lieblingsrennen Paris–Roubaix einlegen musste.

Nebenan bei der Feuerwehr laufen bei sommerlichen 25 Grad Celsius die Grills auf Hochtouren. 1.400 Bratwürste wurden eingekauft, 400 Rindswürste, die jetzt um 14.30 Uhr schon alle weg sind, 350 Steaks, 200 Brezeln, 15 Hektoliter Getränke, außerdem gibt es eine Kuchentheke. Seit Jahrzehnten versorgt die Feuerwehr auf dem Kranichplatz die Rennzuschauer. „Am Anfang dachten wir noch, dass es weniger Leute sind als letztes Jahr, aber dann kam plötzlich der große Andrang“, erzählt der Vorsitzende des Feuerwehrvereins Dieter Lezius und fährt fort: „Wir machen das gerne und danken auch dem Bienenkorb für die Unterstützung.“ Der Förderverein für Mammolshainer Kinder in Kita und Grundschule hilft mit – der Radklassiker ist einfach ein Fest für den ganzen Ort.

Und schon kreist wieder der TV-Hubschrauber über dem „Bergdorf“, die Profis kommen ein zweites Mal. Immer noch ist das Duo vorne, aber nur noch mit zwei Minuten und Degenkolb mit fletschenden Zähnen optisch bereits leicht angeschlagen. An der Billtalhöhe, also noch ein ganzes Stück vor dem Feldberg, macht das Feld ernst, die Flucht ist beendet – aber das Bergtrikot hat sich der 35-jährige Routinier gesichert. Erstmals in seiner Karriere war er bei der ersten Überfahrt als Führender über den Feldberg gefahren, dazu zweimal an der Königsteiner Bergpreiswertung in der Nähe des Waldparkplatzes vorn gewesen. Das reicht für die Sonderwertung, die der endschnelle Klassiker-Spezialist sonst fast nie angeht.

Als die Profis 35 Kilometer vor dem Ziel das dritte Mal im Finale über den Mammolshainer Berg kommen und die Favoriten ernst machen, hat sich Degenkolb bereits in ein hinteres Feld zurückfallen lassen. Der Schweizer Jan Christen vom UAE-Emirates-Team attackiert fulminant am Steilstück und bleibt bis zum Rundkurs in der Frankfurter Innenstadt vorne. Auf dem Zielstrich haben dann die das Vorderrad vorne, die clever ihre Kräfte eingeteilt haben, den Sprint der besten 35 entscheidet der hoch eingeschätzte Belgier Maxim van Gils (Lotto-Dstny) vor der Alten Oper für sich. Das sehen nur noch die wenigsten auf der Videowand, der Großkampftag ist oben am Berg vorbei, im Tal beim OGV wird weitergefeiert …

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