Mammolshain (as) – Sie lebte mehr als 105 Jahre lang in der Schulstraße und war Mammolshains Dorfälteste. Am 5. Juli wäre Adelheid Reus, die im Ort auch als Adi und Adelchen bekannt war, 106 Jahre alt geworden. Doch diesen Geburtstag hat sie nicht mehr erlebt. Ende April war sie in der Nacht in ihrem Haus friedlich eingeschlafen.
Das Licht der Welt erblickte Adelheid am 5. Juli 1919 in der Schulstraße 6 – kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs waren Hausgeburten noch üblich. Sie war das zweite Kind von Dominik und Eva Borgetto. Insgesamt hatte Adelheid noch vier Geschwister und drei Halbbrüder, die aus der ersten Ehe ihres Vaters stammten. Den schönen italienischen Namen, der in Mammolshain zu dieser Zeit sicher außergewöhnlich war, hatte sie ihrem Großvater zu verdanken, denn Adelheids Opa Pietro, der Vater von Dominik, stammte aus Reglio, einem Dorf im Piemont.
Die Lebensgeschichte von Adelheid Reus, geborene Borgetto, weiß ihr Sohn Wolfgang Kurt Reus im Detail zu erzählen. Er hielt auch die Trauerrede. Und er nannte es ein „Zeichen“ seiner Mutter, dass er die Kontaktdaten der eigentlich eingeplanten Trauerrednerin verlegt hatte, denn keiner kannte Adelheid Reus besser als ihr Sohn. Er hatte fast 81 Jahre dieses langen Lebens begleitet.
Als Kind hatte seine Mutter sehr gekränkelt, deshalb wurde sie in den 20er-Jahren zweimal zur Erholung nach Weilmünster geschickt. Dennoch kümmerte sie sich bereits mit neun Jahren schon um ihre Schwestern Maria, Hedwig und vor allem um Bruder Kurt. Denn so konnte die Mutter das Futter für die Ziegen, Schafe, das Schwein, die Hühner und Hasen besorgen. Die Mutter war nach dem Tod von Dominiks erster Frau aus dem fränkischen Volkach nach Mammolshain gekommen, um sich um die drei Jungs zu kümmern, da Vater Dominik mit einem Partner in Frankfurt ein Malergeschäft hatte, ehe er später die Obstannahmestelle in Mammolshain übernahm. Adelheid sei immer der „Liebling“ ihres Vaters gewesen, wusste Wolfgang Reus vom besonderen Verhältnis seiner Mutter zu seinem Großvater zu berichten.
Nach der Schule machte Adelheid eine Ausbildung in einer Kunstwerkstatt in Kronberg, ehe sie zuerst mit Schwester Liesel, später allein, zur Schuhfabrik Ada-Ada nach Höchst ging. Bei Wind und Wetter morgens um 6 Uhr zu Fuß nach Bad Soden zur Bahn laufen und abends zurück, das war damals normal. Durch die Arbeit lernte Adelheid viele Freundinnen aus Neuenhain und Altenhain kennen. Sehr gut befreundet war sie mit Renate aus Neuenhain. Die jungen Frauen besuchten gerne Tanzveranstaltungen in der Umgebung. Überhaupt war singen, musizieren in ihrem Elternhaus sehr ausgeprägt, und tanzen war neben der Schauspielerei eine große Leidenschaft.
So lernte sie den guten Tänzer Fried aus Neuenhain kennen, der auch noch den Walzer links herum konnte, was offenbar ein ganz erheblicher Vorteil beim Werben um Adelheid war. Obwohl der Krieg begonnen hatte, wurde Fried – oder Fritz oder Friedrich, wie Adelheid ihn nannte – zunächst nicht eingezogen, da er einen starken Spreiz- und Senkfuß hatte. Später musste er doch noch nach Polen zur Ausbildung als Fuker, 600 km von Mammolshain entfernt, was die beiden nicht daran hinderte, sich 1942 zu verloben.
Fried wurde Ausbilder in Posen, musste weiterziehen nach Russland und in die heutige Ukraine, wo er Mitte 1943 in Cherkasy, ein „kleines Stalingrad“, nur mit Glück und wenigen Kameraden entkam. Bei einem Heimaturlaub im Herbst 1943 sahen sich Fried und seine „Heidi“, wie er sie nannte, zum letzten Mal – und im Juli 1944 kam Sohn Wolfgang zur Welt. Seinen Vater lernte er nie kennen. Der geriet Anfang 1944 bei Petrikau in der Woiwotschaft Lodz nahe der Ostfront, beim Versuch, auf die deutsche Seite zurückzukehren, in einen Hinterhalt und flüchtete sich mit Kameraden in einen Heuschober. Einer der Kameraden, der Adelheid und Wolfgang später besuchte, berichtete, dass Fried am Oberschenkel getroffen worden war und dass sie ihn zurücklassen mussten. Das war die letzte Spur von Fried Reus, alle Nachforschungen von Adelheid und später des Sohns über das Rote Kreuz blieben ohne Erfolg.
Bis vor kurzem habe er seiner Mutter nach jeder Fahrt durch seine „zweite Heimat“ Polen, dem Heimatland seiner Frau Maria, ein Foto vom Denkmal des unbekannten Soldaten gezeigt. „Das hat sie zwar im ersten Moment sehr aufgeregt, dann aber zufrieden gemacht“, so Wolfgang Reus.
Nach dem Krieg musste das Leben weitergehen für Adelheid und ihren kleinen Sohn. Sie baute zusammen mit Schwester Liesel und Halbbruder Albert am Ende der Schulstraße eine Doppelhaushälfte: Es war ihr einziger Umzug, innerhalb der gleichen Straße von der Hausnummer 6 in die 22. In diesem Haus lebte sie bis zu ihrem Tod. Der „Bauerngarten“, der fast das ganze Jahr über blühte, war nicht nur ihr großes Hobby, sondern für alle Nachbarn und Passanten eine Augenweide.
Und mit Alois fand Adelheid nach dessen Pensionierung rund 30 Jahre lang bis zu dessen Tod im Jahr 2000 noch einen liebenswerten Partner, der von Pohl-Göns zu ihr nach Mammolshain gezogen war. Besuche in der Heimat von Alois in Oberschlesien, in das Land, in dem ihr Ehemann geblieben war, konnte sie wieder genießen.
Sohn Wolfgang zog im Jahr 2010 mit seiner Frau Maria mit ins Haus der Mutter. Auch von einem Schlaganfall 2017 erholte sich die schon betagte Seniorin entgegen der Prognose der Ärzte noch einmal. „Sie wollte noch leben, singen und Andy Borg und André Rieu im Fernsehen sehen“, erzählte der Sohn. Möglich war das auch deshalb, weil Maria nicht nur voll bei der Pflege ihrer Schwiegermutter einstieg, sondern auch Pflegerinnen aus ihrer Heimat Polen nach Mammolshain vermitteln konnte. Auch Wolfgangs Cousin Kurt, der Sohn von Adelheids jüngstem Bruder, habe die Familie als „Motivator“ seiner Mutter sehr unterstützt. Beim Lied „Tanz mit mir in den Himmel hinein“, habe er mit der Tante sogar lange Zeit noch Pirouetten gedreht.
Erst in den letzten Wochen vor ihrem Tod verschlechterte sich der Zustand von Adelheid Reus immer mehr, sodass sie auch nicht mehr zum Dienstag-Treffen der Caritas gehen konnte, was sie immer sehr gerne gemacht hatte, zuerst mit Walter Bommersheim und nach dessen Tod alleine. „Ich denke, sie hatte ein schönes langes Leben, hatte mit ihren Schwestern Liesel und Hedwig sowie Halbbruder Albert und auch der Schwägerin Else ein sehr gutes und inniges Verhältnis. Ich denke und glaube, ein Platz im Himmel ist ihr sicher, und dort findet sie sicherlich ihren Fried und alle anderen, die ihr lieb waren“, schließt Sohn Wolfgang seine Erinnerungen an seine Mutter voller Dankbarkeit ab.
Adelheid Reus im Alter von 105 Jahren.Foto: privat