Kronberg (mw) – Volker Reiches Comic „Strizz“ ist Legende. Insgesamt neun Jahre lang lief sie im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung, bis 2010, in der „Herr Paul“, ein schwarz-weißer Kater mit Diktatorenehrgeiz für viele die heimliche Hauptfigur war. „Strizz“ gehört zu den erfolgreichsten deutschen Zeitungscomics. Volker Reiche, der in Königstein wohnt, hat dafür wichtige Auszeichnungen bekommmen, wie die Leiterin der Stadtbücherei, Barbara Deinhardt, zur Begrüßung des Comic-Autors zum Auftakt des kleinen Festivals „Lesen & Lesen lassen“ dem zahlreich in der Stadtbücherei erschienenen Publikum verriet. Er erhielt den Max-und Moritz-Preis der Stadt Erlangen, den Olaf Gulbranson-Preis und den Swift-Preis der Stiftung Marktwirtschaft. Auch wurde er 2006 als bester deutscher Comiczeichner ausgezeichnet. Doch für den Fall, dass seine Kronberger Gäste ihn noch nicht alle kennen, gab er einen umfassenden und abwechslungsreichen Überblick in seine Arbeit als Comic-Autor. Auf den „Autor“ am Ende legt Volker Reiche wert, denn genau das macht ihn aus, dass er seine Comics nicht nur selbst erfindet und zeichnet, sondern auch die Texte dazu schreibt. „Es ist schade, dass sich so wenige Comic-Zeichner zutrauen, eine ganze Geschichte zu erfinden“, bemerkte er. Der Comic hat für ihn eine ganz eigene Faszination: mit jedem Strich, den er setzt – in wenigen Minuten zeichnete er den beeindruckten Gästen die Figur „Donald Duck“ und „Herrn Paul“ aus „Strizz“ aufs Papier – erhält der Leser schon ungeheuer viel Informationen. Als Beispiel zeichnet Reiche sich als Kind aus seiner stark autobiografischen „Graphic Novel“, „Kiesgrubennacht“, die er später noch vorstellen sollte. Als Buchautor sei mit der ähnlich großen Anzahl von Strichen, mit dem Begriff „Kind“, eindeutig weniger gesagt. Bilder setzten sich auch in Folge betrachtet viel schneller zu einem Ganzen zusammen, auch Ortswechsel seien im Comic kein großer Aufwand.
Aber wie kam der 1944 in Belzig Geborene zum Comic? „Ich dachte nach meinem Staatsexamen in Jura, ich mache mal lieber etwas Vernünftiges. Als linker Revolutionär in den 68ern konnten das eher Underground-Comics sein als Rechtsanwalt.“ Reiche musste allerdings feststellen, dass die Comics sich schlecht verkauften und selbst sein linker Druckladen in Frankfurt sie nur widerwillig für ihn druckte. „Sie sahen die politische Relevanz nicht so richtig“, erzählte er lachend.
Glücklicherweise habe seine Frau als Ärztin damals für den Finanzausgleich sorgen können. Was also tun? Volker Reiche zeichnete ab 1979 sechs Donald-Duck-Geschichten für den niederländischen Oberon-Verlag. Auch hier gehörte für ihn immer das Schreiben hinzu. Er lernte das Zeichnen mit „Verve und „Krabumm“, erzählte er, allerdings hatte er sich in seinem Ausdruck eher den damals angesagten Disney-Zeichnern anzupassen. Was folgt ist „Meggi“, für die Hörzu. „Hier konnte ich einige Figuren, die ich dazuerfinden konnte, das hat mir schon viel Spaß gemacht. Über 20 gut bezahlte Jahre sollten ins Land gehen, bevor er mit „Strizz“ für die FAZ begann. „Diese folgenden Jahre waren eine sehr anstrengende Zeit, ohne Urlaub, eine sehr grenzwärtige Zeit“, blickt er zurück.
Danach wagt er sich mit „Kiesgrubennacht“, die 2013 erschienen ist, an seine Kindheitsgeschichte. „Ich beschreibe meine Kindheit zwischen vier und neun Jahren“, erzählt er. Als Autor blickt er nicht mit den wissenden Augen eines Erwachsenen, der inzwischen bestimmte Geschehnisse aus der Kindheit neu zu deuten versteht, auf seine Kindheit als Flüchtingkind, sondern er erzählt sie aus der Sicht des kleinen staunenden Volkers, dem in dieser Zeit vieles unverständlich bleibt. In Zwischenpassagen folgen Dialoge mit ihm als Erwachsenen und seinen Haustieren, in denen er das Erlebte verarbeitet, einordnet, kommentiert.
Wie die Stadtbücherei-Gäste erfahren, hatte Reiche eine Kindheit, die Einiges zum Verarbeiten bereit hält. Seine Eltern waren überzeugte Nationalsozialisten. „Mein Vater wollte unbedingt Dichter des Führers werden“, erzählt er. Seine Mutter war Gauleiterin im „Bund deutscher Mädchen“. „Wenn man von seiner Mutter noch in den 50er-Jahren Sätze wie ,nur keine jüdische Hast‘ hört, kann man nur Staunen“, so Reiche. „Auch wenn sie mit uns Kindern alles familiär wunderbar gemacht hat.“ Sätze vom Vater, der eine große Affinität zur Gewalt hatte, klingen ihm heute noch in den Ohren: „Hätten wir den Krieg gewonnen, hätten wir jetzt ein Rittergut in Ostpreußen. Wir könnten zusammen über unsere Güter reiten.“ Was er erlebt hat, hat Reiche gezeichnet, mit viel Humor, gleichzeitig aber auch mit schonungsloser Offenheit, was die Brutalität seines Vater gegenüber seiner Mutter betrifft. Seinen sechsten Geburtstag aus der „Kiesgrubennacht“ lässt er an diesem Abend aufleben. Die Zuhörer erfahren, dass Volker als Flüchtling mit seinen drei Geschwistern in einem Dorf in Bayern gelandet ist. Sie sehen und hören von den ärmlichen Verhältnissen, in denen sie nach dem Krieg leben, wie sich Vater und Mutter streiten, sein Vater mit ihm eine Spritztour in einem roten Flitzer unternimmt und wie er zwar keinen Dolch und eine Lederhose, wie sehnlichst gewünscht, geschenkt bekommt, dafür aber ein Fußballbuch, selbst gemacht von seinem Bruder und ein Taschenmesser, das noch spitzer als ein Dolch ist. Sein Vater, sagt Reiche, hat von den Kriegszeiten, in denen er als Kriegsbericherstatter unterwegs war, nicht viel erzählt, aber es gab eine Geschichte, die Mutter und Vater zum Besten gaben als sei es ein Witz: Demnach war der Vater bei einer Massenerschießung mit dabei. „Er erzählte uns, jemand habe ihm die Pistole angeboten, um auch einmal zu schießen.“ „Nein danke“, sei seine Antwort gewesen. „Wir sollte daraus lernen, dass man nicht einfach ,Nein‘, sondern ,nein danke‘ sagt, wenn man etwas nicht möchte.“ Bei dem Versuch Jahre später, von seinem Vater zu der „Kiesgrubennacht“ mehr zu erfahren, würgt der Vater, das Kind seiner Freundin an der Kaffeetafel. „Er wollte nicht mehr reden und statt sich den Mund zu verschließen hat er dem Kind die Luft abgestellt. „Habt Ihr das gesehen, meine Hand handelt schneller, als ich denken kann“, sagt der Vater dazu im Comic. „Wir sind sofort gegangen und ich habe ihn dann nicht mehr gesehen“, berichtet Reiche. Dieses Erlebnis passe zu einer Kriegsgeneration, die geschwiegen habe.
Volker Reiche hat das Schweigen gebrochen und sich seine Erlebnisse von der Seele gezeichnet und geschrieben.
Inzwischen ist er mit „Smirks Café“ in die FAZ zurückgekehrt. „Jetzt erzähle ich eine heute denkbare Familiengeschichte, bei der der rüstige Sechzigjährige eigentlich die Dinge, macht, von denen man meinen sollte, dass sie der junge Herr Smirk machen sollte.“
Zum Abschluss signierte Reiche die bei Dirk Sackis am Büchertisch erworbenen Bücher geduldig mit seinen Comicfiguren, Sonderwünsche inbegriffen.