Kronberg. – „Kommst du mit?“, frage ich meinen Mann an einem Sonntag ohne Termine und private Verpflichtungen. „Lass uns ein wenig an die frische Luft gehen, das bunte Laub da draußen genießen.“ Wenig später parken wir das Auto in einer kleinen Straße von Kronberg, überlegen uns, ob wir bis Kronthal hinunterlaufen oder nur eine kleine Runde drehen. Da spricht uns eine Dame, die gerade ihr Auto abschließt, an: „Sie wollen sicher auch zur Lesung. Kommen Sie einfach mit mir, dann müssen Sie nicht den langen Weg um die Burg herum gehen.“ Wir schauen uns an, nicken und folgen den raschen Schritten der freundlichen Dame, die ein Tor aufschließt und einen kurzen Weg über nasses Laub nimmt, bis wir im Burghof landen, wo sie von vielen Händen begrüßt wird. „Wenn Sie zur Kasse hinuntergehen und sich einen Goldtaler holen, gibt‘s einen Tee und nette Kleinigkeiten, bevor gelesen wird. Am besten belegen Sie gleich Plätze im Saal, denn der Andrang wird groß sein.“
Bald dampft der Tee im Glas, leckere Schnittchen passen wunderbar dazu. Dann betreten wir den wunderschön renovierten Raum in der Burg Kronberg. Gedämpftes Gemurmel von Damen, auch einzelnen Herren, die auf den Beginn der Lesung von Kalevala, dem finnischen Nationalepos, warten, angekündigt in deutscher und finnischer Sprache. Es ist Buchmessezeit, das Gastland: Finnland. Kurzgeschichten und zwei Romane von Sofi Oksanen, der Starautorin Finnlands, habe ich bereits gelesen; aber Kalevala fehlt mir noch. Als hätte das jemand geahnt und wunderbar diesen Nachmittag eingefädelt.
Nach einer Klaviersonate von Sibelius geht es los: die Sage von der Erschaffung der Welt mit der Trennung von Himmel und Erde, Sonne und Mond, Wolken und Sternen. Ich schließe die Augen, höre die Wellen an die Klippen rauschen, folge der Hauptperson über die kahle Insel. Finnische Musik und finnische Laute, die rau, kehlig und sehr rhythmisch daherkommen, malen eine Welt von Naturgewalten und der Macht der Musik. Von Wesen, die die Hauptfigur in allen Krisen nicht allein lassen. Sodass die Sage Kalevala so endet: ‚Väinämöinen fühlte, wie eine Last von ihm abfiel. Es ist gut, dass ich nicht allein bin, dachte er. Dann steuerte er sein Schiff in den Sonnenuntergang.’
Worte und Musik klingen in mir nach, als wir an diesem 21. September 2014 die Kronberger Burg verlassen. „Als hätte man auf uns hier gewartet.“ Benommen vor Glück und warmer Gefühle fahren wir nach Hause. „Du glaubst nicht, was wir heute Schönes erlebt haben. Aus heiterem Himmel. Ein bisschen frische Luft wollten wir schnappen. Und dann bekommen wir solch ein Geschenk! Diese Lesung von Kalevala auf der Kronberger Burg.“ Unser Sohn lacht am Telefon: „Siehst du, wie es ist, wenn man einfach offen ist für das Leben.“
Gudrun Dennig
Kronberger Schreibstube