Kronberg Academy Festival ehrt Lichtgestalt Pablo Casals

Kinderchor-Jubel in der voll besetzten Johanniskirche Foto: Andreas Malkmus

Kronberg (ks) – Mit einem ganzen Tag voller Musik, Vorträgen, Diskussionen und einer Filmdokumentation zu Ehren des großen Cellisten Pablo Casals ging das achttägige Cello-Festival der Kronberg Academy zum 20. Jubiläum am Samstag zu Ende. Herzstück des letzten Festival-Tages war die Uraufführung von „Die Engel der Trauer“ für Violine, Cello, Kinderchor und Kammerorchester in der Johanniskirche. Komponist Giya Kancheli, geb. 1935 in Tiflis, Georgien, hatte das Stück dem in Russland inhaftierten, ehemaligen Oligarchen Mikhail Chodorkowski zu dessen 50. Geburtstag gewidmet, um – ganz in der Tradition des großen Pablo Casals – mit musikalischen Mitteln Stellung zu einem aktuellen politischen Missstand zu beziehen. Pablo Casals (1876 – 1973) hatte sich Zeit seines Lebens für Freiheit und Menschlichkeit eingesetzt und versucht, auch andere Künstler für diese Ziele zu gewinnen. Und so will auch Kancheli mit „Die Engel der Trauer“ gegen das unverhältnismäßig harte Vorgehen der russischen Regierung gegen den Geschäftsmann Mikhail Chodorkowski protestieren. Ergriffen lauschten die Zuhörer der vollbesetzten Johanniskirche den klaren Kinderstimmen des „Shchedryk“-Kinderchors aus Kiew, der aus rund 40 Mädchen bestand. Unter Begleitung der Kremerata Baltica spielten Gidon Kremer Violine, seine Frau Giedre Dirvnauaskaite Cello, Andrei Pushkarev Percussion und der Kantor der Johanniskirche, Bernhard Zosel, die Orgel.

Weitere Programminhalte waren das „Nigra sum, Ave Maria Nr. 3“ von Casals selbst, Auszüge aus dem „Sabat Mater“ von G. B. Pergolesi sowie ein Wiegenlied für Frauenchor und Streichorchester von Arvo Pärt – alles drei Musikstücke, bei denen Trauer, aber auch Zuversicht ganz nah beieinanderliegen, und die dem Publikum mithilfe der besonderen Akustik in der Johanniskirche sprichwörtlich unter die Haut gingen.

Was für ein Mensch war Pablo Casals, der heute, 40 Jahre nach seinem Tod, noch immer eine solche Strahlkraft besitzt? An dem sich junge Musiker orientieren und gestandene Künstler ein Beispiel nehmen? „He was the greatest Cellist ever“, sagt einer seiner ehemaligen Schüler beim Podiumsgespräch am Nachmittag, der eigens aus den USA angereist war, um diesem besonderen Tag in Kronberg miterleben zu können. Sehr anschaulich beschrieb Helga v. Tobel Pablo Casals am Vormittag im Museum Kronberger Malerkolonie: „Künstler war Casals schon früh. Zu einem herausragenden Menschen entwickelte er sich erst später!“, sagte sie. „Ihn zeichnet die überragende Menschlichkeit aus, die er mit Worten und Taten immer wieder unter Beweis gestellt hat“. In Anwesenheit von Marta Casals Istomin, der dritten Ehefrau von Pablo Casals, mit der er nach eigenen Aussagen „die glücklichsten Jahre meines Lebens verbracht hat“, sprach Helga v. Tobel 90 Minuten lang über Leben und Werk des großen Cellisten. Ihr Mann, Rudolf v. Tobel, war ab den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts als Cellist und Musikwissenschaftler Assistent und rechte Hand von Casals, dem auch sie als Übersetzerin jahrelang zur Seite gestanden hatte. „Casals sagte immer: Die beste Technik ist die, die man nicht sieht!“ Schon als Kind habe sich Casals frei gemacht von einengenden Fesseln; ein Meilenstein sei die Loslösung des linken Armes vom Körper gewesen, denn bis dahin wurde das traditionelle Cellospielen mit angelegtem linken Arm gelehrt, so dass sogar ein Buch, das zwischen Arm und Körper festgehalten werden konnte. „Casals spielte mit dem Einsatz beider Arme!“. Die unerhörte Klarheit der Töne erzeugte er zudem mit dem besonderen Auf- und Absetzen der Finger seiner linken Hand. Darüber hinaus nutzte er die „Intonation Expressive“, ein melodisches Gesetz, das Streicher, aber auch Sänger für sich nutzen. In der Tonfolge nach oben oder unten steht hier nicht jeder Ton für sich allein, sondern wird je nach dem nächstfolgenden Ton nach oben oder unten variiert. Obwohl Casals stets mit großem Lampenfieber zu kämpfen hatte und sich unmittelbar vor Auftritten elend vor seelischer Pein gefühlt habe, „klang bei ihm alles leicht und natürlich“, sagt von Tobel.

Pablo Casals war das zweite von elf Kindern, von denen sieben das Säuglingsalter nicht überlebten. Vielleicht liegt darin die Ursache für die Intensität, mit der die Mutter die Geschicke des kleinen Pau, katalanisch „Friede“, von Anfang an begleitet hat. Sie war es, die an das Talent ihres Sohnes glaubte und sich damit gegen die Pläne des Vaters durchsetzte. So führte Casals Weg über Barcelona nach Madrid, wo er begann, sich zusätzlich zum Cellospiel mit gesellschaftlichen und politischen Themen auseinanderzusetzen. „Hier lernte er, zwischen Schönrednern und charakterfesten Menschen zu unterscheiden“, so von Tobel. Mehrfach pro Woche war er später Gast im Königspalast, wo er das Vertrauen von Königin Christina gewann, die ihn förderte und finanziell unterstützte. Weitere Stationen waren Brüssel, Paris, und immer wieder seine Geburtsstadt, El Vedrell in Katalonien. Ab der Jahrtausendwende muss er sich keine Sorgen mehr um Engagements zu machen, wirtschaftlich geht es ihm gut. Beim U-Boot-Beschuss der Deutschen während des ersten Weltkrieges kommt sein Freund und langjähriger Musiker-Kollege Enrique Granados mit seiner Frau ums Leben und hinterlässt sechs Kinder. Dies nimmt er zum Anlass, den Grundstein für das heutige Urheberrechtsgesetz zu legen, das Hinterbliebenen über 60 Jahre Tantiemen zusichert. In den 20er-Jahren gründet er das Pablo Casals-Orchester und bezahlt jedem Orchester-Mitglied die doppelte Gage. Damit verhindert er, dass die Musiker weitere Engagements annehmen müssen, um mit ihren Familien finanziell über die Runden zu kommen. Sieben Jahre soll es dauern, bis sich das Orchester von selbst tragen kann; auf diese Weise sorgt Casals dafür, dass auch einfache Menschen in den Genuss klassischer Musik kommen, die sich die teuren Eintrittsgelder sonst nie hätten leisten können. Casals bereist Europa und die USA, wo er sich auch zeitweilig niederlässt. Zurück in Europa, lässt er das Cello aus Protest über das Franco-Regime über viele Jahre ruhen, übt, lehrt, gibt aber keine Konzerte mehr. Erst zum 200. Todestag von Johann Sebastian Bach beginnt er 1950 wieder zu musizieren; er gibt den ersten Meisterkurs in Zürich. Mitte der 50er-Jahre bereist er zusammen mit seinem Bruder Enrico und dessen Frau Puerto Rico. In Begleitung der jungen Cellistin Marta Montanez Martinez begibt er sich auf Spurensuche nach der Familie seiner Mutter, die aus Puerto Rico stammt. Dort erleidet Casals jedoch einen Herzinfarkt, den er wohl auch dank der Pflege der jungen Marta, die ebenfalls aus Puerto Rico stammt, gut übersteht. Trotz des Altersunterschiedes von 60 Jahren werden die beiden ein Paar und heiraten 1957. In den folgenden Jahren widmen sich beide dem neu gegründeten San Juan Cello Festival und reisen zu Auftritten um die ganze Welt, unter anderem zu einem Konzert bei den Vereinten Nationen in New York. Dieses Konzert und seine Friedensbotschaft machte Casals zu einem Symbol für Frieden und Freiheit in der Welt. 1962, bei der Uraufführung seines Oratoriums „El Essembre“ in San Francisco, kündigte er an, den Rest seines Lebens dem Einsatz für Menschenwürde, Brüderlichkeit und Frieden zu widmen. 1971, zwei Jahre vor seinem Tod, erhielt der 95-jährige Casals aus den Händen von UNO-Generalsekretär U Thant die Friedensmedaille. Das Musikstück „El Essembre“ ist bis heute als „Oratorio for peace“ oder „Hymne an den Frieden“ bekannt.

Der letzte Tag des Kronberg Academy Festivals endete am Abend mit der Aufführung der Sechs Cellosuiten von Johann Sebastian Bach, über den Casals sagte, nachdem er 1950 wieder begonnen hatte zu spielen: „Bach saved my life!“ Wem Pablo Casals` Lebenswerk das Leben einmal retten wird, ob Mikhail Chodorkowski oder anderen Unterdrückten in der Welt, lässt sich noch nicht abschließend sagen, doch nach den vielen ergreifenden, teilweise traurigen Momenten dieses Pablo Casals-Tages war eine Botschaft ganz deutlich zu hören: Das 97-jähige Leben der Lichtgestalt Pablo Casals war viel zu kurz! Und daher soll „Pau“ mit seiner Musik und seinen Gedanken weiterleben – in der weltweiten Cello-Gemeinde, die sich regelmäßig in Kronberg versammelt, und auch darüber hinaus. Zu Casals zwanzigsten Todestag wurde die Kronberg Academy gegründet, nun, zu seinem vierzigsten ehrte die Kronberg Academy den großen Cellisten und Philantropen mit einer politisch motivierten Uraufführung. Zeitgleich erhielt seine Frau, Marta Casals Istomin, die Ehrenplakette der Stadt Kronberg.

Mit der Orchestrierung dieses konzeptionellen Dreiklangs ist dem Künstlerischen Leiter der Kronberg Academy, Raimund Trenkler, und seinem ganzen Team der große Wurf gelungen, Musik auf höchstem Niveau mit dem Freiheitsgedanken von Pablo Casals auf immer mit der Kronberg Academy zu verbinden.



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