„Mehr Demokratie wagen!“ – Willy Wimmer als Zeitzeuge im Gespräch mit Oberstufenschülern der Altkönigschule

Kronberg (die) – Die Aula des Oberstufengebäudes war bis auf den letzten Platz gefüllt, als ein weiteres Highlight der von der Altkönigschule etwa jährlich veranstalteten Zeitzeugengespräche am vergangenen Freitag in der fünften und sechsten Stunde begann. „Wir wollen aus erster Hand erfahren, was wir nicht wissen“, mit diesen Worten eröffnete der Fachbereichsleiter für Gesellschaftswissenschaft Martin Fichert die Lesung und Podiumsdiskussion zu Willy Wimmers 2016 veröffentlichtem Buch „Die Akte Moskau“. Janis Oberndörfer, ehemaliger Schulsprecher, hatte da eine zündende Idee – und kein geringerer als der ehemalige CDU-Parlamentarier, langjähriger Bundestagsabgeordnete und Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Willy Wimmer selbst hatte sich bereit erklärt, für die interessierten Schüler und Schülerinnen in Kronberg Rede und Antwort zu stehen. Mit finanzieller Unterstützung der Liselott und Klaus Rheinberger-Stiftung, die das Honorar für Wimmer übernommen hatte sowie Unterstützung des Fördervereins und der Alumni der AKS konnte dieses Projekt durchgeführt werden. „Es ist Eure Zukunft, fragt, was Ihr nur fragen könnt!“, so die einleitenden Worte des Organisators Christian Schmeiser.

Schon das Datum der Veranstaltung, der 27. Januar, hatte einen denkwürdigen Hintergrund. Zum einen, weil dieser Tag im Jahre 1996 von Roman Herzog zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt wurde. Zum anderen, weil am 27. Januar 1944 die 900 Tage dauernde Blockade Leningrads durch die deutsche Heeresgruppe Nord geendet hatte, deren Ziel es war, die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen. Auch die Zahl 27 spielte dabei eine Rolle, sie sollte nämlich an die 27 Millionen russischen Gefallenen des Zweiten Weltkriegs erinnern. Damit war bereits das historische Spannungsfeld, das im weiteren Verlauf der Podiumsdiskussion erörtert wurde, vorgezeichnet. Um den Oberstufenschülern Einblicke in die Hintergründe und Zeiten großer Hoffnungen der späten 80er-Jahre zu vermitteln, könne es keine bessere Gelegenheit geben, als mit einem Zeitzeugen wie Wimmer zu sprechen. Das solle den Blick auf die krisenhafte Gegenwart schärfen, so Schmeiser.

Wimmer wies bereits mit einleitenden Worten auf die politische Verantwortung der Gegenwartspolitik hin. „Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als Donald Trump Präsident geworden ist“, sagte er. Solche Bemerkungen in einer Zeit, die durch Ablehnung des amerikanischen Präsidenten geprägt ist, muten auf den ersten Blick seltsam an. Wimmers persönliche Ansicht war einer der Eckpfeiler der Debatte in der Altkönigschule. Wimmers Erfahrungen aus den Zeiten des Kalten Krieges begründeten diese Einschätzung, denn durch gegenseitige Provokationen der gegnerischen Seite sei man des Öfteren „...haarscharf an einem Krieg vorbeigeschrappt“. Die Gefahr eines Dritten Weltkrieges beschwört Wimmer bereits in seinen einleitenden Worten wegen der aktuellen europäischen und amerikanischen Politik. Da sieht er Donald Trump als „Hoffnungsstrahl. „Man kann ihn beurteilen, wie man will, man gewinnt Hoffnung auf eine vernünftige, nicht auf Krieg ausgerichtete, Beziehung zur russischen Konföderation“, argumentierte er. Anschließend lasen drei Schülerinnen (Chiara Rautenberg, Maike Stechl und Carolin Ehrlich) auf dem Podium drei Passagen aus Wimmers Buch „Die Akte Moskau“ vor. Im Anschluss an jede vorgelesene Passage hatten die Schüler/-innen Gelegenheit, Fragen an Wimmer zu richten. Zunächst hielt sich das Publikum zurück. Schließlich trauten sich die ersten und sodann entstand rasch eine Diskussion vom politisch Allerfeinsten. „Diese Fragen sind prima!“, freute sich Wimmer insbesondere über besonders kritische und provokante. Mit sichtlichem Vergnügen und viel Herzblut nahm er zu den Fragen Stellung.

Von wem Provokationen denn ausgehen, von der USA oder von Russland, wollten die Schüler wissen. Ferner kamen Fragen zur europäischen und amerikanischen Politik in Beziehung zum Konflikt mit der Ukraine, Fragen zur deutschen Aufrüstungspolitik, zur Flüchtlingskrise und zum Zustand der Meinungs- und Pressefreiheit auf. Scharf waren stets die Antworten des Politikers, harsch die Kritik an der deutschen Regierung, laut der Zwischenapplaus, etwa beim Thema, wie es derzeit um unsere Meinungsfreiheit bestellt ist. Worte, die zu denken gaben und die in den üblichen Talk-Runden, die zwischen Kochsendungen und Tatortkrimis stattfinden, so nicht zu hören sind. Viele historisch abgeleitete politische Zusammenhänge konnte der Politiker und Autor den Schülern aufzeigen. Er sprach immer wieder von der Chance, die Deutschland nach der Wiedervereinigung gehabt habe, die aber durch die Kehrtwende der NATO von einem Verteidigungsbündnis in eine „Angriffsorganisation“ ungenutzt geblieben sei. Stattdessen werde Putin durch die Bundesregierung eine aggressive Expansionspolitik unterstellt und man habe sich in Bezug auf die amerikanische Präsidentschaftswahl von Anfang an einseitig an der Wahlgegnerin Trumps ausgerichtet. Umstände, in denen Wimmer Gefahren für den Weltfrieden sieht. Er plädiert vielmehr aus seiner historischen Erfahrung als führendes Mitglied des Verteidigungsministeriums, damals in der Diskussion mit der Sowjetregierung, für einen partnerschaftlichen Umgang Europas und der NATO mit der russischen Föderation.

Daneben bemängelte er in der Debatte immer wieder die schwindende Demokratie durch die deutsche Regierungspolitik, gleichsam als Resultat der – wie er es nannte – „faktischen Abschaffung des Parlamentsvorbehalts“. Anlass für diese Ausführungen war die Frage eines Schülers, was Wimmer von der Aufrüstungspolitik Deutschlands halte. Diese Frage gefiel ihm sichtlich und er holte aus, da dies nicht in einem Halbsatz zu beantworten sei. Er sprach dabei von einer „merkwürdigen Regierung“, die bei der Aufrüstung nicht ihr Volk gefragt habe und kritisierte, dass man bei drei entscheidenden Fragen nicht die Bevölkerung beteiligt habe, obwohl dies nach seiner Auffassung erforderlich gewesen sei. Bei der Energiewende, bei der Abschaffung der Wehrpflicht und bei der Flüchtlingsfrage. Zentrale Entscheidungen der Politik würden nicht mehr demokratisch legitimiert: „So etwas habe ich bisher nicht erlebt“, griff er die aktuelle deutsche Politik an, „faktisch wird der amerikanische Präsident zum Oberbefehlshaber Deutschlands. So sehr liebe ich den Trump auch nicht!“.

Eine weitere Frage, mit denen sich die Jugendlichen offenbar beschäftigen, bestand darin, ob die Presse zu einseitig berichte und was Wimmer zu dem Umstand sagt, dass die sogenannten „Fake-Nachrichten“ mittlerweile mit Haftstrafen bedroht seien. Wimmer führte hierzu aus, dass er bereits seit dem Jugoslawien-Krieg eine freie pluralistische Presse eigentlich nicht mehr sieht. Er sei „vom Donner gerührt“, dass er sich mit der russischen Presse RT (Russia Today) treffen müsste, um reden zu können, wie er wolle. Wimmer geht sogar soweit zu sagen, der Abbau demokratischer freiheitlicher Rechte sei mittlerweile in Deutschland Regierungsprogramm. „Man kann auch die Geschichte Deutschlands auf den Kopf stellen!“, so sein bitteres Resümee.

Auf die abschließende Frage nach der Gefahr eines Atomkrieges „aus Versehen“, wie etwa im Buch über Stanislaw Petrow von Ingeborg Jacobs beschrieben, antwortete Wimmer mit Worten, die schockierten: „Wir müssen davon ausgehen, dass ein möglicher Konflikt nuklear ausgetragen werden wird. Das wird unser aller Ende sein.“

Wimmers eindrucksvolle und ungewöhnliche Ausführungen sorgten für interessierte Zuhörer. Es wurden zwar sehr kritische und provokative Fragen gestellt, insbesondere zu Trump und Putin, aber es gab relativ wenig Kontra. Nach Beendigung der Veranstaltung existierte jedoch massenhaft weiterer Gesprächsstoff bei den Schülern/Schülerinnen auf dem Nachhauseweg. Kritische Bemerkungen waren dabei auch zu vernehmen, etwa die Rolle Russlands im Weltgeschehen. Zu einseitig positiv sei Wimmer gegenüber der russischen Föderation eingestellt, so Kritik aus dem Publikum auf dem Schulhof.

Egal, wie sich die Oberstufenschüler und letztlich alle Bürger politisch entscheiden beziehungsweise ihre politische Meinung revidieren, Kritiker wie Willy Wimmer mit fundiertem historisch-politischem Wissen und einer langen Erfahrung braucht Deutschland im Dialog mit dem Rest der Welt. In jedem Fall kann man als Alternative zu den üblichen politischen Debatten unserer Medienwelt Anregungen aus dem Buch von Wimmer „Die Akte Moskau“ erhalten (Willy Wimmer: Die Akte Moskau, Verlag zeitgeist).

Willy Wimmer und das Diskussionsteam, v.l.n.r: Maike Stechl, Janis Oberndörfer, Maron Hoffmann, Willy Wimmer, Lehrer Martin Fichert, Carolin Ehrlich, Chiara Rautenberg, Johanna Möller

Foto: Diel



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