Kronberg (pu/kb) – Bisher unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit blickt der Kronberger Pfadfinderstamm Schinderhannes als Teil des Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP), einem international anerkannten, interkonfessionellen Pfadfinderverband, in diesem Jahr auf 70-jähriges Bestehen zurück. Anlass genug, die vielen unbekannte hiesige Erziehungsbewegung für Kinder und Jugendliche in den Blickpunkt zu rücken.
Wenn Vereinswerdegänge nicht von Beginn an lückenlos dokumentiert werden, können sich Rückblicke als eine schwierige Angelegenheit erweisen. Glücklicherweise hat Prof. Dr. Wolfgang Jaeschke, in Pfadfinderkreisen als „Numa“ bekannt, der als Stammesführer sowohl von 1960 bis 1965 als auch von 1968 bis 1969 die Geschicke leitete, Erinnerungen zahlreicher Kronberger zusammengetragen, die Einblick geben in die Historie der Kronberger Pfadfinder.
Wohlfahrt der Jugend
Demnach traten in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg deutschlandweit ehemalige Mitglieder von Jugendbünden wieder miteinander in Kontakt mit dem Ziel der Wiederbelebung der durch die Nationalsozialisten verbotenen Jugendbewegung durch die Gründung neuer Dachorganisationen, die lokale Jugendgruppen betreuten. Die Amerikanische Besatzungsmacht sah diese Entwicklungen zwiespältig. Auf keinen Fall sollte unter dem Deckmantel dieser Bewegungen erneut eine Gruppierung nach Art der Hitlerjugend entstehen. Andererseits sollte und wollte man im Rahmen des Programmes der „Reeducation“ (von den Alliierten geplante und durchgeführte demokratische Bildungsarbeit im gesamten Nachkriegsdeutschland) auch etwas für die Wohlfahrt der Jugend tun. In der internationalen Pfadfinderbewegung mit englischen Wurzeln sahen die Westmächte ein geeignetes Mittel. Mit ihrer Genehmigung wurde neben zwei kirchlichen Pfadfinderbünden der interkonfessionelle „Bund Deutscher Pfadfinder“ gegründet.
Start als Königsadler
Unter dessen Dach entstand im Jahr 1947 der Kronberger Pfadfinder-„Stamm Königsadler“ unter der Führung von Heini Beiz und Ludi Emmerich. Unter amerikanischem Protektorat erhielt er trotz herrschender Raumnot und Zwangsbewirtschaftung sämtlichen Wohnraums, den ehemaligen Karzer (Arrestzelle in Universitäten und Schulen) im Keller des Gymnasiums am Schulgarten als erstes Heim zugewiesen aus der Einsicht heraus, dass man insbesondere die männliche Jugend betreuen und im Rahmen dessen sinnvollen und konstruktiven Zielen zuführen wollte. Dazu zählte unter anderem Ausbau und Herrichtung des Karzers. Die Jugendlichen sollten im Rahmen der Mitwirkung in der Pfadfindergruppe befähigt werden, Verantwortung zu übernehmen, um eine freiheitlich demokratische Gesellschaft in ihren Anfängen mitzugestalten und mit zu tragen. Nachdem die Pfadfinder den Keller des Karzers liebevoll ausgebaut hatten, wurden die Räumlichkeiten von der Verwaltung für eigene Zwecke beansprucht. Bei der notwendigen Suche nach einer neuen Bleibe sowie der Planung einer Pyrenäenfahrt kam 1957 der Kontakt mit dem am Falkensteiner Stock ansässigen Landwirt Friedel Emmel zustande, in dessen Scheune die Gruppe bei schlechtem Wetter Unterschlupf fand. Im Gegenzug halfen die Pfadfinder in der Landwirtschaft, insbesondere beim Schneiden der Obstbäume und dem Ernten der Äpfel. So entstand ein freundschaftliches Verhältnis.
Fritz-Emmel-Haus
Das Ehepaar Lisbeth und Friedel Emmel hatte seit jeher ein Herz für die Jugend. Ihr einziger Sohn war im Krieg mit 20 Jahren in Russland gefallen. „Karl-Heinz Schneider (Eggi) und ich erlebten Friedel Emmel mit seiner Frau, genannt ‚Englisch Lisbeth‘ während unseres Besuchs auf seinem Bauernhof außerhalb von Kronberg als älteren Herrn, der fließend Französisch sprach und für die Fahrtenplanung gute Tipps über Frankreich und seine Bewohner gab. Er erzählte, dass er in Metz aufgewachsen und dort 1912 ein Pfadfinderkorps gegründet hatte“, erinnert Jaeschke. Vor diesem Hintergrund waren Emmels gerne bereit, Grundbesitzung und Vermögen zu stiften, um mit Unterstützung des Landesverbandes der Hessischen Pfadfinder ein Haus für die Jugend zu bauen, das im Gedenken an ihren Sohn „Fritz-Emmel-Haus“ heißen sollte. Nach Grundsteinlegung 1960 und gut zweijähriger Bauzeit wurde es 1963 in Betrieb genommen. Der damalige Kronberger Bürgermeister Dr. Günther Jacobi dankte den Pfadfindern in seiner Eröffnungsrede mit den Worten: „Mit dem ‚Fritz-Emmel-Haus‘ habt Ihr Kronberg um ein Schmuckkästchen bereichert, möge es lange bestehen und weitergedeihen.“ Nach zahlreichen Erweiterungen ist die Einrichtung, die, so sei am Rande erwähnt, „Numa“ und dessen Frau Anna acht Jahre lang, von 1968 bis 1976, als Heimleiterehepaar führten, bis zum heutigen Tag eine beliebte und erfolgreich geführte Jugendbildungsstätte.
Weitere Heimstätten
Noch während der Bauzeit hatten die Pfadfinder 1960 im Keller des Anwesens von Wilhelm Schauf in der Bleichstraße ihre zweite vorübergehende Bleibe gefunden. Nach der ersehnten Eröffnung des Fritz-Emmel-Hauses sollten die Umzüge dennoch mitnichten enden, denn schon nach wenigen Jahren erwies sich diese Stätte für den örtlichen Stamm als zu groß. Mehr als dankbar wurde daher 1967 das Angebot der Familie von Walther Leisler Kiep angenommen, den Pfadfindern großzügig 20 Jahre lang einen Schuppen und ein umliegendes Gelände im Bereich der ehemaligen Gärtnerei der Villa Vom Rath zur Verfügung zu stellen. Nach dem Ausbau des Schuppens zum Heim erhielt dieses anlässlich der Einweihung im Herbst 1968 den Namen „Maulbeerhaus“. In diese Zeit fällt auch die Anschaffung einer eigenen Apfelpresse. 1987 fand man im Anwesen Erich Geisels in der Eichenstraße die nächste vorübergehende Bleibe, bis der damals neu gewählte Bürgermeister Wilhelm Kreß 1990 den Magistrat der Stadt Kronberg veranlasste, den Pfadfindern eine ehemalige Notunterkunft in Kronberg „Auf der Heide 17“ als Heim zu verpachten. Bis zu ihrem 50. Jubiläum 1997 hatten die Pfadfinder das alte und primitive Haus zu einem jugendgerechten Heim ausgebaut. Damit ist in Kronberg eines der schönsten Heime des gesamten Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder entstanden, welches sie bis zum heutigen Tage erfolgreich betreiben.
Aktivitäten
Gemeinsame Aktivitäten sind das prägende pädagogische Element ihrer Jugendarbeit. Generationen von Pfadfindern sangen und musizierten zusammen, planten und unternahmen Fahrten in aller Herren Länder, die den jungen Menschen Weltoffenheit und Kontakte mit anderen Nationen vermittelten.
Schon im Sommer 1948 begab sich der „Stamm Königsadler“ auf eine erste erinnerungsträchtige Großfahrt zu einem Zeltlager auf der Insel Mainau am Bodensee. Im Sommer wie im Winter trafen sich in der Folge die Gruppen regelmäßig an der „Fehlerruhe“, um in der freien Natur der Wälder am Altkönig und Hünerberg Fähigkeiten in handwerklichen, körperlichen, sozialen und geistigen Bereichen zu entwickeln. In den Ferien ging es auf große Fahrt mit dem Fahrrad, der Eisenbahn oder per Anhalter.
Wichtige Stilelemente dabei waren und sind bis heute die Pfadfindertracht mit blauem Hemd und blau-gelbem Halstuch, die schwarze Jungenschaftsjacke (Juja) und die Kothe, ein schwarzes Zelt mit einem Rauchloch, sodass man in dem Zelt ein Feuer machen kann. Zum Abschluss des Tages liegt man am Feuer, wenn zum Gruppengesang der Hürdenpott dampft. All dies vermittelt ein unvergessliches Gefühl der Geborgenheit in einer Gemeinschaft. In den Fünfziger Jahren war dies von besonderer Bedeutung, denn viele der Jungens wuchsen mit alleinerziehenden Müttern auf. Für sie war die Gruppe ein Ersatz für den im Krieg gebliebenen Vater.
Umbenennung in Schinderhannes
Auf einer Silvesterfahrt 1959 / 60 in den Hunsrück nahm während einer Übernachtung im Obdachlosen-Asyl in Emmelshausen die Idee Form an, die „Königsadler“ in „Schinderhannes“ umzubenennen, da der Schinderhannes im nahen Soonwald sicher oftmals unter ähnlichen Bedingungen übernachtet hatte. Leiter des Stammes mit neuem Namen war übrigens Wolfgang Jaeschke. Die erste Großfahrt unter seiner Leitung führte nach Griechenland.
Eigenes Lied
In dieser Zeit wurde dem Stamm von Verena Wussow ein eigenes Lied geschenkt: „Im finstren Taunuswalde, auf Hühnerberges Halde, da hausen wir. Bei Jedermann im ganzen Land ist unsre Schar bekannt. Wir sind das Räuberheer vom Schinderhans….“ Um diesem Räubergefühl Ausdruck zu verleihen, wurden ab und zu sogenannte Lumpenfahrten veranstaltet.
Präsenz
In der Öffentlichkeit sind die Pfadfinder nicht häufig, dennoch regelmäßig präsent. Zu den Höhepunkten in ihrer mittlerweile 70-jährigen Geschichte zählt zweifellos die Teilnahme am Festzug 1956, als die beiden neuen Glocken der evangelischen Johanniskirche in Anwesenheit sämtlicher Vereine am Kronberger Güterbahnhof zunächst in Empfang genommen wurden und im Anschluss feierlich zur Kirche geleitet wurden. Gleich nach ihnen liefen damals die Pfadfinderinnen, die dem separaten Bund der Deutschen Pfadfinderinnen angehörten. Im Laufe der Jahre gab es immer wieder Kontakte und Berührungspunkte mit den Mädchen. Schließlich traten die Kronberger Pfadfinderinnen im Jahr 1969 unter der Führung von Lisbeth Heuse zum Stamm Schinderhannes im Bund Deutscher Pfadfinder über. „Was damals ein Skandal war, kann heute als epochemachende Tat der Kronberger gesehen werden, dann erst gut zehn Jahre später vereinten sich die beiden Bünde deutschlandweit zum koedukativen ‚Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder‘, schildert Prof. Dr. Jaeschke dieses denkwürdige Ereignis.
Seit Beginn des Kronberger Weihnachtsmarktes im Jahr 1971 bieten die Pfadfinder den Marktbesucher in ihrem Zelt eine gastliche Statt, wo man sich am warmen Ofen bei heißen Getränken und allerlei Snacks von der Kälte und dem Trubel des Marktes erholen kann. Beim Apfelmarkt wird mit der eigenen Presse frischer Süßer gekeltert.
Rüstzeug für das Leben
Im Sinne einer koedukativen Erziehung besteht die Kronberger Pfadfindergruppe heute aus rund dreißig Jungen und Mädchen im Alter von acht bis Mitte Zwanzig. Bei Sommerfesten „Auf der Heide“ und beim alljährlichen Auftritt der Pfadfinder auf dem Kronberger Weihnachtsmarkt kommen die Ehemaligen, die einen Förderverein gegründet haben, mit den jungen Aktiven zusammen zum Erinnerungs- und Erfahrungsaustausch. Die aktuellen Stammesführer Damian Ludig und sein Stellvertreter Lukas Köhler führen das erfahrungs- und handlungsorientierte Lernen als zentrale Methode der Pfadfinderbewegung fort. Die „Meute“ (Altersgruppe sieben bis zwölf), „Sippe“ (12 bis 16) und „Die Runde“ (ab 16 Jahren) treffen sich jeden Samstag von 15 bis 17 Uhr im Heim „Auf der Heide 17“, um gemeinsam zu basteln, singen, spielen (von Brettspiel bis „Schlag den Schinderhannes“ oder Seifenkistenrennen), musizieren oder am Gebäude oder im Gelände zu werkeln. Dazu sind jederzeit Interessierte willkommen. Neben den Gruppenstunden werden nach wie vor Lager und Fahrten veranstaltet. „Wir halten eine solche Jugendbewegung auch heutzutage keinesfalls für überholt, denn die Kinder und Jugendlichen lernen spielerisch Verantwortung zu übernehmen und nehmen viel mit, was sie im Laufe ihres Lebens benötigen wie Projekt- und Terminmanagement, Handwerkliches und vieles mehr“, unterstreichen Ludig und Köhler.
Chronik und Kontakt
Die sieben Jahrzehnte der Kronberger Pfadfinder haben zahlreiche Persönlichkeiten geprägt. An dieser Stelle würde die Nennung aller jedoch den Rahmen sprengen. Abgesehen davon sehen sich die Kronberger Pfadfinder ihrem Leitgedanken gemäß stets als Team. Die jeweiligen Stammesführer haben zwar eine tragende Rolle als Vorangehende, allerdings ist das Amt beispielsweise nicht vergleichbar mit Vereinsvorsitzen. Ungeachtet dessen wollen die Verantwortlichen der Vollständigkeit halber einmal eine Liste aller bisher an der Spitze Tätigen zusammentragen. Bis zum 75-jährigen Bestehen im Jahr 2022 soll eine entsprechende Chronik vollendet sein.
Wer sich für die Arbeit und Aktionen des Pfadfinderstamms Schinderhannes interessiert, kann jederzeit per E-Mail Kontakt zu Damian Ludig an damian[at]ludig-online[dot]de und Lukas Köhler an jan.lukas.koehler[at]gmail[dot]com aufnehmen.
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