Kronberg (pf) – Schrecklich, wie einmal eine Zeitung in ihrer Überschrift titelte, nein, schrecklich sei sein Leben nicht gewesen, aber wild und bunt. Über dieses Leben berichtet der Jazzgitarrist und Schlagzeuger Heinz Jakob „Coco“ Schumann in seiner Autobiografie „Der Ghetto-Swinger“, aus der am Samstagabend im Großen Saal des Altkönig-Stifts die Bad Homburger Schauspielerin Doris Zysas vorlas. Dass er als Halbjude, der während der Nazi-Zeit Jazz und Swing - damals verbotene Musik - spielte, dass er das Ghetto Theresienstadt, und die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Kaufering, eine Dependance des KZ Dachau, überlebte, hat ihn zu der Überzeugung gebracht, dass er wohl einen Schutzengel habe. „Denn so viele Zufälle kann es gar nicht geben, die mich retteten.“
„Coco“ Schumann ist heute 89 Jahre alt und lebt in Berlin, wo er 1924 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters das Licht der Welt erblickte. Die Musik, schrieb er in einem Brief, den Doris Zysas zu Beginn des Abends vorlas, sei die Droge gewesen, die sein Leben bestimmte. Schon als Kind infizierte er sich mit dem Bazillus, den er nie wieder loswurde. Als Autodidakt brachte er sich Gitarre und Schlagzeug bei und spielte bereits als 16-Jähriger in verschiedenen Swingbands. Dass er als Halbjude noch bis 1943 unbehelligt seine Musik machen konnte, habe er wohl seinem Aussehen zu verdanken gehabt, meint er - zwei Meter groß, blond und blauäugig.
„Ich hatte unglaubliches Glück, so lange durchzukommen“, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen. Damals hätte für ihn nur der Tag gezählt, das Morgen sei ohnehin ungewiss gewesen. So habe er einmal einem Parteigenossen, der vor der Bühne stand und mitswingte, provozierend zugerufen, warum er eigentlich noch hier sei, schließlich sei er Jude, minderjährig und spiele obendrein auch noch Swing.
Doch im März 1943 wurde auch er verhaftet und sollte nach Auschwitz-Birkenau deportiert werden. Doch seinem Vater gelang es im letzten Moment – Coco stand bereits in der Schlange für den Zug nach Auschwitz -, dass er ins Ghetto Theresienstadt zu seinen Großeltern geschickt wurde.
Sein Schutzengel führte ihn dort gleich bei seiner Ankunft mit Musikern zusammen, die unter dem Namen „Ghetto Swinger“ auftraten. Theresienstadt hatten die Nazis nämlich als „Vorzeige-Ghetto“ konzipiert, um der Welt zu demonstrieren, wie gut sie die Juden behandelten. Dazu gehörte auch, dass sie Swingmusik machen durften, von Count Basie bis Duke Ellington. George Gershwins „I Got Rhythm“ war die Erkennungsmelodie der Band, in der er als Schlagzeuger mitspielen durfte.
Er erlebte mit, wie das Ghetto herausgeputzt wurde, als sich eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes zur Inspektion ansagte. Der Besuch wurde für die dort lebenden Menschen zur Enttäuschung, denn die Mitglieder der Delegation ließen sich von der makabren Inszenierung blenden, suchten nicht einmal das Gespräch mit den Bewohnern. „Vielleicht wollten sie es gar nicht so genau wissen“, vermutet Coco Schumann.
Er habe in Theresienstadt zum ersten Mal Einblicke in die Hölle erhalten, schreibt er in seinem Buch. Noch schlimmer wurde es, als er im Herbst 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Doch auch dort halfen ihm sein Schutzengel, seine Schlagfertigkeit und die Musik. Als er an der Rampe vom Standortarzt, dem berüchtigten Dr. Mengele gemustert wurde, erklärte er kurzerhand, er sei Klempner und Rohrleger und entging so dem sofortigen Marsch in die Gaskammern.
Wieder lernte er Musiker kennen, mit denen er zusammen spielen konnte, denn jede Baracke wetteiferte um die beste Kapelle. Instrumente gab es genügend, denn viele Musiker hatten ihre Instrumente nach Auschwitz mitgenommen. Er durfte sich eins aussuchen und berichtet, nie vorher habe er ein so gutes Instrument wie dort gespielt. Aber er musste an der Rampe für die Neuankömmlinge „La Paloma“ spielen, damals eines der Lieblingslieder der SS-Schergen, wenn die Menschen in die Gaskammern geschickt wurden. Die Augen der Kinder, die ihn ansahen und die genau wussten, wohin sie gingen, hätten sich für immer in seine Netzhaut eingebrannt, schreibt er. „Wir machten Musik in der Hölle.“
Anfang 1945 musste er wieder einen Güterzug besteigen, der ihn zunächst nach Berlin und von dort Richtung Süden nach Kaufering brachte. Sein Schutzengel, schreibt er, war ihm schon voraus geflogen, denn dort traf er den Posaunisten der „Ghetto Swinger“ aus Theresienstadt wieder und durfte bei den Küchenkonzerten mitspielen, die ihm beim Überleben halfen. Im April wurde er auf einen sogenannten Todesmarsch Richtung Innsbruck geschickt und in Wolfratshausen von den Amerikanern befreit. Aber er war an Flecktyphus erkrankt und es dauerte eine Weile, ehe er wieder gesund wurde. Danach bestieg er zum letzten Mal, wie er schreibt, einen Güterzug, der ihn zurück nach Berlin brachte, wo es ihm wieder gelang, als Musiker Fuß zu fassen.
40 Jahre lang habe er nicht über das sprechen können, was er im Ghetto Theresienstadt, in Auschwitz und Kaufering erlebte. Aber er sei nach seiner Heimkehr Mitglied der jüdischen Gemeinde geworden nach dem Motto: Wenn mich die Nazis schon als Juden eingestuft haben, dann jetzt erst recht.
Umrahmt und begleitet wurde die Lesung von Doris Zysas aus den bewegenden Lebenserinnerungen der Jazzlegende Coco Schumann vom Powerhouse Swingtett unter Leitung des Saxophonisten und Klarinettisten Wolfgang Zöll. Der Jahreszeit entsprechend begannen die Musiker mit „Autumn Leaves“, spielten später „Mood Indigo“, „Honeysuckle Rose“, „Take The ‚A’ Train“, „Summertime“ mit der Sängerin Lisa Loewenthal und zum Schluss „Bei mir bist du schön“ und „Sweet Georgia Brown“.
Als Überraschungsgast überbrachte der Schlagzeuger Paul Stephan Pflanz den Zuhörerinnen und Zuhörern im Altkönig-Stift persönliche Grüße von Coco Schumann, mit dem er viele Jahre vor allem auf Kreuzfahrtschiffen rund um die Welt musizierte und der heute mit 88 Jahren immer noch als Musiker im Kurorchester Bad Homburg aktiv ist. Bei der letzten Zugabe setzte er sich ans Schlagzeug und bewies, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehört. Ebenso wie Coco Schumann, mit dem er noch fast täglich telefoniert und der ebenfalls noch immer Musik macht. Erst im März dieses Jahres hatte er bei einem Interview mit der Berliner Zeitung erklärt: „Wenn ich mal alt werde, höre ich damit auf.“