Kronberg. – In der letzten Woche, kurz vor dem im wahrsten Sinne des Wortes heiß ersehnten Ferienbeginn, war es wieder so weit: Die Darstellendes Spiel-Kurse der Qualifikationsphase brachten die Arbeit des vergangenen Schuljahres auf die Bühne der Altkönigschule. Unterschiedlicher hätten die beiden Stücke der Schülergruppen wohl kaum sein können; an Klasse, Professionalität und Tiefgang aber ließen beide Inszenierungen nichts zu wünschen übrig.
„Und wir gehen auf Sendung in Drei, Zwei Eins, go“, so eröffnet Chiara Büttner als TV-Moderatorin das erste Stück und „Ich bin Emilia, holt mich hier raus“ beginnt live auf der Bühne. Selbstironisch denunziert Paul Sieber als lispelnder Reich-Ranicki im „Literarischen Quadrat“ Lessings Drama „Emilia Galotti“ als Zumutung für jeden Schüler, der es lesen müsse. Für große Lacher sorgt der an den im Publikum sitzenden Deutschlehrer des Schauspielers gerichtete Zusatz: „Nicht wahr, Herr Keiser!?“
In einer beeindruckenden Mischung aus komödiantischen Elementen, tiefgehender Interpretation des Werks, aktuellen (bzw. zeitlosen) Bezügen zur Erziehungsproblematik und dem auch 2019 immer noch nicht völlig problemfreien Verhältnis zwischen Männern und Frauen spielt der Kurs den Klassiker, indem er alle fünf Akte in Fernsehformate transformiert: Das Trauerspiel zieht sich durch How I met your mother, Let‘s dance, Tatort, Tagesschau und den Bachelor. Verbunden werden die Akte durch den TV-Psychologen Domian (Tim Zipter), der Einsichten in das Innere der verschiedenen Figuren ermöglicht. Regisseurin Rifka Ajnwojner schafft es hierbei, sowohl uns und unserem Fernsehkonsum einen Spiegel vorzuhalten, als auch gleichzeitig die Botschaft des eigentlichen Stückes von Lessing satirisch zu verarbeiten. Nach einer knappen Stunde voller Lacher, besonders seitens der zahlreichen anwesenden Mitschülerinnen und Mitschüler, erreicht das Stück seinen erstaunlich ernsten und äußerst wirkungsvollen Schluss: Gespenstisch, ja fast beängstigend wirkt es, als die in weiß gekleidete und weiß geschminkte Hauptdarstellerin Emilia (gespielt von Carina Müller) als Marionette, die von Vater und Mutter und auch dem Prinzen immer nur hin- und hergezogen wird, auf die Bühne kommt. Gebeugt von den Vorwürfen der 18 Kerzen tragenden Väter und Mütter bricht Emilia nun erstmals ihr Schweigen. Sich die weiße Farbe aus dem Gesicht wischend, erklärt sie, nicht werden zu können, was ihr Vater von ihr erwarte. Als ob sie keinen Willen habe? Dass Emilia sich in der Endszene von ihrem Marionettendasein befreit, zeigt, dass sie nicht nur der Gewalt trotzt, die von dem Prinzen ausgeht, sondern sich auch der Bevormundung durch ihre Eltern entzieht. Mit großer symbolischer Wirkung verkündet der Chor den Tod der Protagonistin: „Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert“ und bläst die Kerzen aus.
Mit tosendem Applaus und Standing Ovations ihrer Mitschüler wird dem Kurs von Rifka Ajnwojner für die unglaublich kurzweilige, sehr witzige und durchaus tiefgründige Meisterleistung gedankt. Spielleiterin Ajnwojner ist sehr zufrieden mit der Leistung ihrer Darsteller: „Ihr habt euch heute alle selbst übertroffen“, freut sie sich. Und auch wenn Lessings Drama damit zum Ende gekommen ist, so ist es der Theaterabend an der Altkönigschule noch lange nicht.
Nach der Pause wird das Publikum von der nach ihrer Mutter rufenden Protagonistin, Insassin einer Mädchenhaftanstalt, begrüßt. „Ach richtig, da ist ja niemand“, schließt Aurelia Pfaffmann als Aschenputtel ihren ersten Auftritt und hat ein gebanntes, ja ab der ersten Sekunde mitfühlendes Publikum vor sich. Und nicht weniger ernsthaft und emotional geht es weiter.
Die visionäre Direktorin der Anstalt (Marleen Appuhn) möchte mit den Mädchen das Stück Aschenputtel auf die Gefängnisbühne bringen. Überzeugt von der Idee, das Gute in den Mädchen zum Vorschein zu bringen und ihnen zu helfen, sieht sie sich schon bald einem erfolgsbegierigen Regisseur gegenüber, welcher ihr Projekt für seine Zwecke nutzen möchte. Topaktuelle Formate wie „Germanys next Topmodel“ reflektierend, zeigt das Stück die Skrupellosigkeit des Regisseurs, der die Mädchen zu publikumstauglichen Geständnissen und quotensteigernden Taten bewegen möchte. „Ich will Dramen sehen, große Dramen“, erklärt Jacob Solf in der Rolle des Regisseurs und verlässt sich auf die perfiden Spielchen, die Thomas Nujiqi als Stellvertreter der Direktorin in Gang setzt und die zunehmend für eine Eskalation von Ausgrenzung und Gewalt unter den Mädchen sorgen. Dafür spannt er Prinz (Paula Wirth/Sophie von Goetz) ein, die Anführerin unter den Mädchen, die, weil sie sich davon einen Vorteil verspricht, keine Sekunde zögert, ihre Freundin Aschenputtel den Löwen zum Fraß vorzusetzen: „Ich stehe für mich, nur für mich, und das ist auch verdammt gut so!“
Die komödiantischen Elemente, welche das Stück durchaus zu bieten hat, scheint das Publikum kaum wahrzunehmen, zu gebannt ist der gesamte Zuschauerraum der Aula der Altkönigschule von der sich anbahnenden Dramatik des Stückes. Totenstill ist es, als Aschenputtel sich erhebt, nachdem sie von ihren Mitinsassinnen beschimpft, gepeinigt und brutal geschlagen zum Finale ansetzt. Das Kleid haben sie ihr vom Leib gerissen, nur noch in Unterwäsche hebt sie ein Messer „Halten Sie schon drauf, da haben Sie Ihr Drama, sind Sie nun zufrieden?“ Mit diesen Worten durchtrennt Aurelia vor laufender Kamera in einer Realistik, die ein erschrockenes Raunen durch die Reihen treibt, ihre Pulsadern. Geschockt beendet die ihren Glauben verlierende Direktorin mit einer Anklage an das Filmteam und die Mädchen das Stück, ihr letzter Satz aber gilt dem Publikum „Und Sie, Sie haben doch auch nur zugesehen.“ Mit diesen Worten verlässt die Direktorin die Bühne und ein nachdenkliches Publikum.
Das Theaterstück „Projekt Gittermärchen“ von Theaterlehrerin Rita Eichmann stellt seinen Zuschauern unterschiedlichste gesellschaftliche Fragen: Sind wir selbst es, die für unser Handeln verantwortlich sind, oder gibt es Umstände, welche unseren freien Willen unweigerlich brechen? Was sind wir zu tun bereit, um uns selbst zu schützen? Was tun wir anderen an, weil es uns nutzt? Wie kann es sein, dass Neugier und der Wunsch nach voyeuristischer Unterhaltung immer wieder über moralischen Werten stehen?
Beide Kurse werden noch einmal auf die Bühne geholt und danken mit tosendem Beifall Hausmeister Stefan Nix, der eben auch Bühnentechniker ist und mit unglaublichem Einsatz, viel Geduld und enorm viel Zeit die Licht- und Tontechnik für beide Stücke übernommen hat. „Ohne Herrn Nix hätten wir das nicht geschafft“, sind sich Ajnwojner und Eichmann einig. Das Publikum ist von beiden Stücken völlig begeistert: „Es sind Aktivitäten wie diese, die unsere Kinder prägen, selbstbewusst und teamfähig machen“, findet Tatjana Wirth, deren Tochter am Mittwoch die Rolle der Anführerin unter den Gefängnisinsassen spielte und am Donnerstag den Kameramann Pierre, „das Stück war beklemmend, erschütternd, gleichzeitig lustig und vor allem hochprofessionell.“ Spielleiterin Eichmann stimmt ihr zu, jeder einzelne ihrer Schüler/innen sei über sich hinausgewachsen. Ihr Kollege Christian Schmeiser steigert sich zu Lobeshymnen: „Unglaubliche Dialoge, von einer Dichte und Schärfe wie in des Sades ‚Philosophie im Boudoir‘, unglaubliche schauspielerische Leistungen, Schülertheater, so wohl noch nie dagewesen!“
Und auch Yvonne Erber, die Fachsprecherin für Darstellendes Spiel, zeigt sich überglücklich: „Welch ein gelungener Abend! Wir haben zwei so unterschiedliche Stücke gesehen, die beide ganz großartig inszeniert wurden. Tolle Ideen, unglaublich ausdrucksstarke Bilder, wichtige Themen und Fragen. Besser kann man nicht zeigen, dass es eigentlich kein schöneres Fach an der Schule gibt als Darstellendes Spiel!“
Marleen Appuhn