„In Kronberg ist die Thäler Kerb die Hauptsache“ – Stimmungsvolles Brauchtum sucht seinesgleichen

Kronberg (pu/mg) – Die letzten Europameisterschaftswochen belegten es durch die mitreißende Stimmung in Stadien, Innenstädten und auf Festmeilen mehr als eindrucksvoll: Fußball wurde augenscheinlich von vielen als die schönste Nebensache der Welt gesehen. Auch im Taunusstädtchen Kronberg wurde mit allen Emotionen mitgefiebert. Als es jedoch an beiden Tagen der Thäler Kerb darum ging, eine Wahl zwischen den zeitgleichen Halbfinalspielen und Kronbergs beliebtestem Volksfest zu treffen, fiel die Entscheidung größtenteils zugunsten des schönsten „Fests im Nest“ aus. Die in die „Staagass“ geströmten, vor Vorfreude strahlenden Thäler-Kerbefans vor Augen konstatierte der für zwei Tage als „Oberbürgermeister“ amtierende Christoph König, diesen Ball aufnehmend, launig: „In Kronberg ist zweifelsfrei die Thäler Kerb die Hauptsache!“ Das sei im Prinzip auch wenig verwunderlich. Es handele sich schließlich bei den Akteuren der Kerb um weitaus mehr als 22 Mann auf dem Feld. Zudem sei die „Spieldauer“ weitaus länger als 90 Minuten und Handspiel in Form von Mitklatschen und Stemmen der Schoppebecher sei ausdrücklich erlaubt.

Ebenso treffend brachte es der Vorsitzende des ausrichtenden Thäler-Kerbe-Vereins, Volker Müller, auf den Punkt: „Wir schreiben das Jahr 2024 und die unendliche Weite der Staagass ist wieder gefüllt.“ In diese Freude mischte sich kurzzeitig der Kampf gegen die Tränen, als er auf den am 2. Juli verstorbenen Willi Girold, einen der Mitbegründer des Thäler-Kerbe-Vereins, zu sprechen kam: „Diese Kerb feiern wir für dich, Willi, und alle, die nicht mehr bei uns sind. Ich weiß, Ihr feiert alle mit uns. Danke Willi!“ Gemäß dem Wunsch des Verstorbenen, „die Kerb bloß wie immer zu feiern“, richtete der TKV-Chef anschließend, dem Programmablauf folgend, das Scheinwerferlicht auf den anstehenden Amtswechsel bei den Thal-Regenten.

„Liebe Leute, wir sagen Danke für ein tolles Jahr, die Zeit mit Euch war wunderbar. Und jetzt ist es so weit, Euer neues Thäler Kerbepaar steht für Euch bereit. Wir wünschen Irene und Roland von Herzen nur das Beste, für das allerschönste schönste Fest im Neste“, verabschiedeten sich Tina Wehrheim und Claudius Jeß von ihrem Thäler Volk. Ein letztes Mal walteten sie ihres Amtes und legten ihren Nachfolgern Irene Calmano und Roland Mausolf die Insignien in Form der „Miss Bembel“-Schärpe und des Bembelordens für den „Thäler Borjermaaster“ um.

Die „Neuen“ in Amt und Würden verknüpften den an ihre Vorgänger gerichteten Dank mit dem Hinweis auf die bleibenden Erinnerungen „an all das Schöne als Thäler Paar“.Ihre eigene, frisch angetretene Regentschaft stehe unter besonderem Fußballeuropameisterschaftsstern: „Die Angst war groß, dass niemand kommt, doch ihr seid hier und das feiern wir. Hier bei uns sich Freunde treffen und Bekannte, sich Leute finden, die sich nicht kannte. Getanzt wird vor der Kerbehütt, und manch ein Schoppen wird verschütt. Die Leut hinter de Ständ, die stehen schon bereit, paar neue haben sich bei uns eingereiht. Paar andere sind schon immer da, jetzt mit ein bisschen mehr grauem Haar. Wir alle sind zum Feiern hier, bei Weck, Worsch, Appelwoi – und frisch gezapftem Bier!“

Die zuverlässige „Staagass“-Festgemeinde ließ sich nicht lange bitten. Mit Anstimmen des von ihm geschriebenen Dääler Kerbelieds durch Ex-Bürgermeister Klaus Temmen und erstmalig Alexander Ritschel an seiner Seite stieg das Stimmungsbarometer augenblicklich in rekordverdächtige Höhen. Der Brückenschlag zwischen Jung und Alt funktionierte einmal mehr in gewohnt gekonnter Manier. Kronbergs junge Generation, die zahlreich ins Thal gekommen war, fügte sich musikalisch problemlos ein. Zahlreiche Lieder, „Staagassenhauser“ und „Evergreens“, die von der Band „Sunny Vibes“ gespielt wurden, kamen in allen Altersschichten dienstags und auch mittwochs gut an. Ein ähnliches demografisches Bild gab es bereits bei und nach den Böllerschüssen der Cronberger Schützengesellschaft von 1398 und dem Kirchenglockenläuten am Hembus-Haus, als der Kerbeumzug ins Thal startete. Quer durch alle Generationen säumten viele Menschen die Straße und jubelten den Teilnehmern zu. Die Honoratioren und „Drollo“, der später seinen Platz am „Kerbebaam“ fand, wurden vom Fanfarenzug Kronberg, der Kronberger Laienspielschar, dem Kappenklub Kronberg mit der Rittergarde sowie den „ahlen und gickelnden Hinkeln“, den Schützen, dem Musikverein Kronberg, dem Recepturkeller, dem Altstadtkreis und dem Kerbenachwuchs begleitet.

Nach dem stimmungsvollen sommerlichen Dienstagabend bei idealen Temperaturen ging es am zweiten Tag mit dem Frühschoppen und dem Seniorennachmittag weiter. Die ältere Bevölkerung ab einem Lebensalter von 65 Jahren wurde von Angestellten der Stadtverwaltung mit „Riwwelkuche“, Bretzeln und Getränken versorgt, musikalisch vom Musikverein Kronberg begleitet. Das Wetter spielte auch an diesem Tag und in diesem wechselhaften Sommer bis auf ein kurzes Gewitter mit. Am Donnerstag bauten die Mitglieder des Thäler-Kerbe-Vereins dann noch die Stände ab und räumten gemeinsam die Staagass auf. Eine kleine Abordnung des Vereins besuchte das „Patenkind“ Kaiserin-Friedrich-Haus, um den Bewohnern vor Ort, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage sind, selbst zur Thäler Kerb zu kommen, dennoch ein wenig „Kerbeflair“ ins Haus zu bringen. Für dieses Jahr ist die Thäler Kerb vorüber, ein weiteres wunderbares und großartiges Kapitel wurde in der geschichtsträchtigen Veranstaltung geschrieben. Nun beginnt bereits die Vorfreude auf das kommende Jahr.

Kirchweih

Woher stammt eigentlich der Begriff Kerb? Die Kirchweih respektive das Kirchweihfest werden seit dem Mittelalter als Feierlichkeit anlässlich der jährlichen Wiederkehr des Tags der Weihe einer christlichen Kirche gefeiert. So weit, so gut. Mögen noch die Kerbeumzüge an religiöse Prozessionen erinnern, so ist der fromme und nicht weltliche Zusammenhang heutzutage womöglich noch beim Thema Buße vorhanden, wenn der Kerbegänger oder die Kerbegängerin nach „getaner Arbeit“ und ohne „Stöffche“ im „Schobbebecher“ am angeschlossenen Tag nach der kompletten Veranstaltung ab und an das eine oder andere nicht ganz so Maßvolle still und leise bereut. Gleichzeitig wiederum ohne Ablasszettel und zwanzig Rosenkränze im Beichtstuhl. Der Mensch, ein sympathisches und bisweilen positiv demütiges Mängelwesen infolge der großen Sause. Ansonsten hat sich die Institution Kerb doch mehr oder weniger verselbstständigt und tendiert zur gemeinschaftlichen Folklore jenseits von Ideologien und Weltanschauungsbotschaften. Es sind zunehmend Vereine und engagierte Bürgerinnen und Bürger, die gerade in kleinen Orten für einen – wenn nicht sogar den – Höhepunkt im Kalenderjahr sorgen. Historisch gesehen – und manch eine oder einer wird es aktuell noch bestätigen – handelt es sich bei der Kerb zudem um einen „Hochzeitsmarkt“. In Hessen ist die Rede von „Kerweborsche“, „Kerbeborsche“, „Kermesborsche“ und „Plobursche“. Heiratswillig oder vielleicht auch unwillig, dennoch „zu haben“, gehen sie auf „Brautschau“. Dass das im Jahr 2024 und gewiss auch in früheren Zeiten nicht alleine die Sache dieser mal mehr, mal weniger jungen Männer ist, erzählt man sich in deren Kreisen hinter vorgehaltener Hand.

Erstes Mal

Eines hatten ein Teil des zweiköpfigen Redaktionsteams dieses Beitrags und viele junge Menschen auf der Thäler Kerb gemeinsam: Sie genossen zum ersten Mal die launige Stimmung und feine Atmosphäre während des gediegenen Ausnahmezustands „im Thal“. Man kommt bei einer Premiere dieser Art nicht umhin, einmal mehr die tatsächlich malerische Altstadt zu erwähnen, die es den Organisatoren optisch einfach macht, ein gelungenes Fest auf die Beine zu stellen, das vermutlich auch aus diesem Grund einmalig erscheint. Vieles andere wird für zwei Tage dann verrückt. Eine Straße wird umbenannt, andere gesperrt, der Bürgermeister zum „Oberbürgermeister“, der Erste Stadtrat vergisst für einen Moment sämtliche Problematiken von Bauvorhaben, „die Feuerwehr“ lässt sich nicht nur mit Wasser sehen und das hessische Gesetz für Sicherheit und Ordnung wird bewusst und zu Recht „im Ermessen“ gebeugt. Nicht zuletzt präsentiert sich ein vormaliger Bürgermeister der Stadt Kronberg, der sicherlich für zwei Amtsperioden im Rathaus nicht nur zu lachen hatte, als im besten Sinne fröhliche Natur und heizt in der Tat auch ganz jungen Menschen musikalisch und am Mikrofon mit eigenen Kompositionen wie „En Bembelsche voll Äppelwoi“ sympathisch bei gleichzeitig noch vorhandener Staatsmännigkeit schlicht und ergreifend ein. Der Funke springt über, die Staagass bebt sympathisch und für ein paar Stunden werden viele Dinge zur Seite geschoben; das von der einen oder anderen Sorge geplagte Organ Gehirn darf sich erholen. Die Stadtgesellschaft jeglichen Alters und jeglicher Couleur gibt sich ein amüsantes Stelldichein. Ein bisschen kann man sich als Außenstehender gewiss an solchen Kerbetagen in das ab und an von wohlhabenden Klischees gebeutelte Kronberg im Taunus verlieben. Das darf man nur nicht zu laut sagen, denn sonst wird der Zuspruch noch größer, die Besucher noch zahlreicher und am Ende steht womöglich der Faktor Gemütlichkeit, der „wie das Amen in der Kirchweih“ gewiss auch zur Thäler Kerb gehört, auf dem Spiel. „Und des, gell, des wolle mer bestimmt net.“

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