„Die reine Mathematik spricht dagegen“ – Brexit-Lektion in der Altkönigschule

Staatssekretär Mark Weinmeister auf dem Podium neben Aurelia Pfaffmann und Marleen Appuhn (rechts) in der Aula der Altkönigschule: der Brexit in all seinen Wirrungen sei für ihn „unfassbar“, eine „lose-lose-Situation“ sei unausweichlich. Foto: Sura

Kronberg (aks) – Es ist ein Mittwochvormittag und es geht nicht ums Klima in der Altkönigschule, sondern um den Brexit, mit dem sich Großbritannien gerade als Mitglied aus der Europäischen Union herausdividiert. Der Brexit beschäftigt nicht nur die Q2-Schüler der AKS, sondern auch Staatsssekretär Mark Weinmeister, CDU-Politiker und seit 2014 Staatssekretär für den Bereich Bundes- und Europaangelegenheiten in Hessen, der den schmerzhaften Ausstiegsprozess als „lose-lose-Situation” bezeichnet. Er weiß Bescheid als Mitglied für das Land Hessen im Ausschuss der Regionen (AdR) der Europäischen Union. Er hat neben Aurelia Pfaffmann und Marleen Appuhn auf dem Podium in der Aula Platz genommen, um sich den vielen drängenden und gut recherchierten Fragen der Moderatorinnen und der AKS-Schüler zu stellen. Die Brexit-Problematik stellt Emilie Ebert kurz vor, später geht es auch um Populismus und Rechtsruck sowie Macrons Forderungen innerhalb der Europäischen Union. Aktuell sehe es so aus, dass auch nach vielen zähen Verhandlungen und dem vollen Einsatz der Premierministerin May es wohl zu einem No-Deal-Brexit bis zum 12. April komme. Alle möglichen Szenarien den Brexit betreffend bis hin zu einem zweiten Referendum wurden vom Unterhaus allesamt abgeschmettert.

Das Absurde, „Blödsinn” wie Weinmeister es ausdrückt, sei, dass sich vorher noch britische Politiker für das Europaparlament, das am 26. Mai gewählt wird, aufstellen ließen, diese Frist ende nämlich genau am 12. April. Weinmeister ist „fassungslos”, einerseits ginge es dem britischen Volk nicht schnell genug mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, auf der anderen Seite möchte man aber doch noch politisch teilhaben als Mitglied im Europaparlament.

Tendenz national statt europäisch

Bei einem No-Deal-Brexit, auf den das Ganze hinauslaufe, würden alle Beteiligten nur verlieren. Die Vorteile des Europäischen Binnenmarkts und der Zollunion würden allesamt wegfallen, wenn sich die Briten als Nation wieder selbst regieren wollten, wie es das Referendum vom 23. Juni 2016 deutlich machte.

Dabei warnt Weinmeister generell vor Volks-Referenden, da die Bürgermehrheit sich eben „nicht in der Tiefe” mit politischen Problemen und Entscheidungen auseinander- setze. Das bedeute im Klartext, dass sich das Verhältnis zwischen Deutschland, der Europäischen Union und Großbritannien von heute auf morgen vollständig verändern würde. Eigentlich gebe es beim Austritt aus der Europäischen Staatengemeinschaft nur Nachteile, vor allem leide die Reisefreiheit. Weinstein schildert ganz konkret und für jeden verständlich, was passieren wird: „Keine Flugzeuge mehr nach London!” Außerdem brauche jeder Bürger der EU nun ein Visum für einen Besuch auf der Insel und jeder britische Bürger ein Visum für den Besuch im restlichen Europa. Auch müsse jeder Brite, der hier arbeitet, sofort die EU verlassen und jeder EU-Bürger Großbritannnien. Die Europäische Union garantiere vier Freiheiten, die im Falle eines Austritts wegfielen: die der Dienstleistung, als Arbeitnehmer, der Waren und des Kapitals. Das bedeute nicht nur Grenzkontrollen – vor allem der LKWs (er rechne mit einer 40 Kilometer langen Schlange!) – sondern auch Schüler- und Studentenaustauschprogramme seien nur noch mit Visum möglich, also keine Erasmus-Programme mehr! Hintergrund dieser britischen “Isolation” (das Wort kommt von Insel!, Anm. der Redaktion) sei eine Art britische Selbstbestimmung, die Mehrheit der Briten wolle sich nicht unterordnen, lebe noch ideell in Zeiten des Commonwealth, als Großbritannien das Zentrum seiner Kolonien war.

Der Brexit sei erst der Anfang, rege aber hoffentlich zum Nachdenken und zu mehr Engagement für Europa an. In der EU gebe es auch andere Nein-Sager, wie Polen, Ungarn, Rumänien, Italien, aber den EU-Austritt wagten sie dann doch nicht. So hofft der Staatssekretär, der nicht nur sehr eloquent ist, sondern bei den Schülern den richtigen Ton trifft, auf mehr Einsatz für Europa. Da steht ein Politiker, der nicht ex catedra den Zeigefinger hebt, sondern die Probleme auf den Punkt bringt. Er spricht frei von der Seele weg, macht sich über rhetorische Feinheiten nicht allzu viele Gedanken und gewinnt so die Sympathien der Schülerinnen und Schüler, die gut vorbereitet an diesem Europa-Dialog teilnehmen. Europa sei ein Rechenexempel, das führt er den Schülern drastisch vor. „Reine Mathematik”: Wenn ein Schüler ein Auto kaufen wolle, würde er den regulären Preis zahlen müssen, wenn aber noch der Bruder und die Tante ein Auto kauften, gebe es Rabatte - so funktioniere auch die EU.

Kakofonie der Rechtspopulisten

Für die Rechtspopulisten sei die EU ein Feindbild, vor allem in der Flüchtlingsfrage. Da gebe es keine einheitliche Meinung, zumindest hätten Großbritannien, Ungarn, Polen, Slowakei und Tschechien eine ganz andere Meinung als Deutschland, Schweden, Finnland und Frankreich. „Daraus saugen die Rechtspopulisten Honig”, das müsse man wissen. Die EU könne nur mit neuen und einvernehmlichen Lösungen ein Gegengewicht schaffen zu den vielen grölenden Rechtspopulisten, “eine unerträgliche Kakofonie”, die nur die Schwächen der EU sähen, aber deren Vorteile nicht verstanden hätten. Die Euroskepsis rühre daher, dass viele Menschen das Gefühl hätten, dass Europa sie nicht unterstütze, sie fühlten sich abgehängt.

Weinmeister betont vehement: „Wir brauchen Lösungen und Antworten, nur das hilft gegen Rechtspopulismus.” Lösungen, die auch von denen verstanden werden, die sich permanent benachteiligt fühlten. Für Lösungen helfe nur der Dialog: „Menschen müssen miteinander reden”. Dabei dürften die Grundwerte in der EU nicht verraten werden. Wie gut es uns in Deutschland geht, zeige allein die Jugendarbeitslosigkeit, die bei 6 Prozent liege, im südlichen Europa seien es aber 30 bis 50 Prozent, da sei es mit Perspektiven nicht weit her.

Europa als Mehrheitsentscheidung

Deutschland und Frankreich seien die zwei größten Staaten der Europäischen Union und hätten deshalb Vorbildcharakter. Da funktioniere der Dialog ganz gut. Schwierig wird es, wenn alle 27 Staaten der EU bei jeder Reform zu einer Mehrheitsentscheidung finden müssten. Kein Kinderspiel, das wird auch den AKS-Schülern schnell klar. Weinmeister macht das am Thema Klassenfahrt fest, wo jeder woanders hinfahren wolle. Da sei es schwierig, Kompromisse zu finden und zu einer einheitlichen Entscheidung zu kommen.

Ob es bald die „Vereinigten Staaten von Europa” gebe, wird Weinmeister gefragt. Er sei da skeptisch, Europa habe eine andere Tradition als die Amerikaner, immerhin wurden in Europa noch bis vor 70 Jahren ständig Kriege gegeneinander geführt,

Er rechne mit weiteren zwei Jahrzehnten, bis es genug Gemeinsamkeiten für ein Vereintes Europa gebe. Es habe viel damit zu tun, wie wir heute lebten: In Frieden und Freiheit, in Rechtsstaaten, wo Menschenrechte und Meinungsfreiheit respektiert würden – der besten aller Welten! Da wird der Staatssekretär ernst und warnt: „Das ist nicht gottgegeben”.

500 Millionen Menschen leben in Europa, das sei aber nur ein kleiner Teil. Die meisten Menschen lebten in Diktaturen, Oligarchien, Ein-Partei-Systemen, 1 Milliarde in China, 1 Milliarde in Indien, in den nächsten Jahren fast 2 Milliarden in Afrika.

Zukunft in Europa

Er sei nicht sicher, ob unser Glück nach drei Generationen noch lange Bestand haben werde. Wenn „wir nicht alle zusammenhalten”, sondern lieber national regiert würden („die reine Mathematik spricht dagegen!”), dann sei es vorbei mit den Vorteilen einer Union.

Hoffentlich wachten nicht alle erst auf, wenn es mit Europa zu Ende geht. Da bekommt man als älterer Zuhörer fast Mitleid mit der jungen Generation, von der ein Teil in der Aula der AKS versammelt ist: „Ich mache mir Sorgen!” gibt Mark Weinmeister ehrlich zu. Auf viele Fragen habe er keine Antwort: „Werden unsere Firmen noch wettbewerbsfähig sein? Geht die Digitalisierung an uns vorbei? Wovon sollen wir leben in 20 Jahren? Welches Geschäftsmodell wird das sein?”

Weinmeister bleibt sich treu und gibt sein Credo an die nächste Generation weiter: „Gute Lösungen, gute Antworten bieten, sonst haben wir ein Problem” – hinterherlaufen würde er keinem, der nicht in der EU bleiben wolle. Wenn der Brexit nun demnächst vollzogen werde, gebe es erst in 20 Jahren wieder die Chance auf einen Wiedereintritt. Das sitzt.



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