Trauer um den leidenschaftlichen Rechtsgeschichtler Prof. Stolleis

Prof. Michael Stolleis in seinem Arbeitszimmer 2015 Foto: Westenberger/ Archiv

Oberhöchstadt (mw) – Am Schreibtisch, umgeben von Büchern – zwei große Regale voller eigener Werke – fühlte Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Stolleis sich am wohlsten. Das verriet er im August 2015 im Interview anlässlich der Ordensverleihung „Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste“. Prof. Stolleis ist wenige Monate vor seinem 80. Geburtstag nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Allen voran die vierbändige Geschichte des öffentlichen Rechts, von 1600 bis 1990, an der er über 20 Jahre gearbeitet hat, gehört zu den Standardwerken der deutschen Rechtswissenschaften, an denen Studenten bis heute nicht vorbeikommen. Einige seiner Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Mit dem Studium der Rechtswissenschaften entdeckte der Pfälzer, der schon als junger Mann wusste, dass er was „mit Büchern und mit Schreiben“ machen wollte, seine Leidenschaft für die Rechtsgeschichte und die Literatur, die ihn bis zu seinem Tod nicht loslassen sollte. Zum Zeitpunkt des Interviews freute er sich auf die bevorstehende Premiere von „Margarethe und der Mönch“, erschienen im C.H. Beck Verlag. Darin versammelt sind einige „mehr oder weniger amüsante Rechtsstudien“, wie er verriet. Auch seine Lieblinge, Jean Paul und Johann Peter Hebel, kommen darin vor und wer Stolleis legendäre Stärken kennt, schwierige rechtsgeschichtliche Entwicklungen verständlich darzustellen sowie menschliche Geschichten um eigene kluge Kommentare zu ergänzen, wird, auch über seinen Tod hinaus, Freude haben über diese Sammlung seiner Geschichten. Darin enthalten zum Beispiel der Streit zweier Hofdamen, eine kuriosen Begebenheit aus dem 18. Jahrhundert, der tatsächlich zu einem Krieg, dem „Wasunger Krieg“, geführt hatte.

Stolleis schrieb kontinuierlich: „Damit kann man einfach nicht aufhören!“, sagte er.

Ab 1991 war er Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt, nach seiner Emeritierung 2006 leitete er das Institut weitere vier Jahre kommissarisch. An der Lehre hatte er jedoch genauso viel Spaß wie an den Büchern. 2015 noch kümmerte er sich um seine Doktoranden, leitete Sommerkurse für das Seminar „Wie schreibe ich eine Doktorarbeit“.

Habilitiert hatte Stolleis 1973 mit „Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht“. Ein Thema, das ihm damals nicht nur Freunde machte, zwar war es Thema seiner Generation, doch damals wurde darüber noch geschwiegen. 1975 wurde Stolleis an der Johann Goethe-Universität Professor für öffentliches Recht. Ebenso ausführlich beschäftigt hatte er sich mit der „Geschichte des Sozialrechts“. Das Rechtssystem in den verschiedenen Epochen zu beleuchten, war für ihn ein spannendes Abenteuer, und zwar in jeder Epoche gleichermaßen: „Ich war lange Zeit vom 17. Jahrhundert begeistert, natürlich auch vom 20. Jahrhundert, da es mein eigenes ist, aber ich habe keinen Favoriten, der Dreißigjährige Krieg war ebenso spannend“, verriet der Rechtsgelehrte in dem Interview vor fünfeinhalb Jahren. Dass er als Historiker mehr über die Zukunft voraussagen kann als andere, daran glaubte er nicht. „Vielleicht sind wir offener für die Differenzierung, aber keineswegs Priester, die wissen, wie es weitergeht.“ Es sei falsch, die Zukunft über die gemachten Erfahrungen beurteilen zu wollen, denn keine Situation gleiche bis ins Detail der neuen.

1978 war Prof. Stolleis mit seiner Frau Karen wegen seiner zwei Kinder aus Frankfurt ins grüne Kronberg gezogen. Prof. Stolleis wusste um die Vorteile einer idyllischen Kleinstadt, aber mehr noch um die Wohltaten des deutschen Rechtsstaates: Die Normen-Flut sei der Preis, den die Deutschen für die Wohltaten ihres Rechtsstaates mitzutragen hätten, meinte er damals. „Missen möchte ich den Rechtsstaat jedenfalls nicht.“ Denn das bedeute wortwörtlich: „einen kurzen Prozess zu machen“. Wie das aussieht, kann man in der Welt an den 20 verschiedenen Punkten, an denen es brennt, begutachten, zeigte er auf. „Da wähle ich doch lieber den langen Prozess“, sagte Stolleis. Apropos, eine Verschlankung des Rechtswesens sei immer wieder gefordert worden, gleichzeitig entstehe jedoch in Brüssel täglich ein neues Gesetz. „Ich denke, das ist ein Stück weit der Spiegel unserer Gesellschaft. Wir Deutschen wollen eben alles geregelt haben, wir wollen die Helmpflicht beim Motorradfahren und das gesunde Essen.“

Den Flüchtlingen mit Respekt zu begegnen, war für den Rechtsgeschichtler als politisch denkender Mensch selbstverständlich. „Allerdings tun wir uns als wohlhabende Gesellschaft noch schwer mit spontanen Aufnahmeprogrammen. Aber mit Stacheldraht können wir das auch nicht regeln.“ Für den Historiker sind Flüchtlingsströme bis hin zu Völkerwanderungen ein ganz normales Bild. Wer in seiner Heimat kein Recht auf ein menschenwürdiges Leben hat, keine Arbeit bekommt und hungern muss, der begebe sich ähnlich wie im Märchen auf Wanderschaft: „Ich ziehe aus, um mein Glück zu suchen, heißt es da.“ Stolleis erinnerte in diesem Zusammenhang an die riesigen Auswanderungsströme nach Amerika, gerade auch aus Hessen und der Pfalz im 19. Jahrhundert. „Armutswanderungen sind per se nichts Schlechtes“, betonte er und erinnerte daran, dass „wir eine alternde Gesellschaft sind, die Veränderung braucht“.

Viele Reisen in die Welt, vier Ehrendoktorate, drei Preise, zwei Orden hatte ihm seine Forschung innerhalb der Rechtsgeschichte über die Jahre beschert. Wichtig für ihn war der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis (1991), den er für ein Forschungsprogramm erhielt, und der Balzan-Preis für Rechtsgeschichte der Neuzeit 2000, den es für ihn persönlich gab. „Eine riesige Ehre“ für ihn war auch die Ordensverleihung, der „Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste“. Denn dieser Orden an anerkannte Wissenschaftler, Historiker oder Philosophen existiert bereits seit dem Jahre 1740. Dass ein E-Book die Funktion seiner Bücher erfüllen kann, war für ihn persönlich nicht vorstellbar. „Ich will meine Bücher in den Händen halten“, sagte Stolleis, So bleibt zu hoffen, dass er in seinen gebundenen Werken noch viele Jahre weiterleben wird.



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