60 Jahre: „Geniale Siedlung mit Heizung und Warmwasser“

Renate Krailing gehört zu den ersten Bewohnern der Hilpert-Siedlung. Am 17. Januar 1961 ist sie in die Dornbachstraße 90 eingezogen, wohnt seitdem in der gleichen Wohnung im zweiten Stock eines der ersten Gebäude. Foto: js

Oberursel (js). Als wäre es gestern gewesen, so kann Renate Krailing noch heute von jenem 17. Januar 1961 erzählen, als ein kleines – ach was, ein großes – Wunder ihr Leben bereicherte. Als sie etwa den Wasserhahn in der Küche aufdrehte, und es kam warmes Wasser aus dem Hahn. Oben im zweiten Stock, Dornbachstraße 90, drei Zimmer, Küche, Bad, morgens Sonne in der Küche, nachmittags auf dem Balkon Richtung Westen mit Blick auf eine gepflegte Grünzone. Die alten Teppichstangen stehen noch heute neben den dreigeschossigen Gebäuden in der „Siedlung“, wie es hier nur heißt. Werden auch bisweilen noch genutzt, dann weht der Charme der 1960er-Jahre zwischen den Häuserfronten im Oberurseler Norden.

„Geniale Siedlung mit Warmwasser“, dieses Bild hat sich Renate Krailing, heute 85 Jahre alt und ziemlich fit, tief eingeprägt. Weil sie es immer noch so erlebt und die Dankbarkeit für diesen Gewinn in ihrem Leben nie nachgelassen hat. Auch nach ungefähr 22 000 und ein paar gequetschten Tagen und Nächten in der Dornbachstraße 90 in jetzt etwas mehr als 60 Jahren am Stück nicht, noch immer in der gleichen Wohnung. Mehr als ein halbes Jahrhundert hat sie dort mit ihrem Ehemann verbracht, den alle Friedel nannten, zwei Söhne großgezogen. Ein Enkel wohnt jetzt im Erdgeschoss des gleichen Hauses auf der anderen Treppenseite. Die Krailings waren unter den ersten Bewohnern der Werner-Hilpert-Siedlung, die aber eigentlich immer die „Postsiedlung“ war. Anfangs für 178,55 Mark Miete plus 40 Mark für Warmwasser für die drei Zimmer mit Küche und Bad. Heute ist Renate Krailing wahrscheinlich die letzte „Ureinwohnerin“ in der inzwischen aufgepeppten Siedlung.

Reisbrei macht satt

Alles Postler, nur Postbedienstete haben über viele Jahre eine Wohnung in der Siedlung bekommen. „Zig Bewerbungen“ hätten sie geschrieben, sie und ihr Mann, erzählt Renate Krailing. Beim Telegrafenamt im Frankfurter „Kamerun“ hat der gearbeitet, das Fechenheimer Mädchen war noch in der Ausbildung. Erst ein Schreiben an den Ministerpräsidenten und direkt an die Oberpostdirektion brachte Rückmeldung, Empörung, dann die Wohnung, „da hat’s was genutzt“, sagt sie schelmisch. Aber: „Das war schon viel Geld damals. Die Männer mussten mit der Bahn nach Frankfurt zur Arbeit fahren, das hat gekostet.“ Um ein bisschen zu sparen, sind sie mit dem Rad bis ganz runter zum Bahnhof gefahren und auf dem Heimweg wieder raufgestrampelt. Zwei Tarifzonen gespart, es ging um jede Mark damals.

„Reisbrei-Siedlung“ wurde das Quartier im Norden auch genannt, erinnert sich Renate Krailing. Es gab viele Kinder, aber wenig Geld, Reisbrei machte satt. Zwei Buben waren es bei ihr, natürlich haben beide bei der Eintracht Oberursel auf dem Sportplatz am Eschbachweg gekickt, einer ist heute Vereinsvorsitzender. Der Verein war auch für den sozialen Kitt zuständig, das hat hier immer gut funktioniert. „Die Eintracht war schon immer Multi-Kulti“, findet Renate Krailing, die Nähe zum Camp King hat das verfestigt. „Die Amis“, wie sie früher genannt wurden, waren Nachbarn im echten Sinne. Kamen beim ersten Pfingstturnier mit Gulaschkanone und Schlauchwagen vorbei, weil es noch kein richtiges Vereinsheim gab. Krailing kann dazu einige Geschichten erzählen, die mal in der Siedlung spielen, mal auf dem Gelände des US-Camps.

Der Aufruhr, als es um den Bau des berühmten „Feldbergzubringers“ ging, der heutigen „Nordumfahrung“, zog weite Kreise im Umfeld, ans Eingemachte ging es für viele Alteingesessene, die inzwischen längst Oberurseler waren, als die Eigentümer vor 20 Jahren die Mietwohnungen in Eigentum umwandeln wollten. Vom „Ausverkauf“ der Hilpert-Siedlung war schnell die Rede, viele der „alten Postler“, sahen ihren Lebenstraum verrinnen. Sie sind dort gemeinsam alt geworden, waren zu einer festen Gemeinschaft geworden, viele Freundschaften sind entstanden. Zum Kauf würde die Rente nicht reichen, die optimale Lage, „bis zur Straßenbahn 100 Meter, den Bus vor der Tür, große Grünflächen vor dem Haus“, wollte keiner aufgeben. Kündigungssperrfristen wurden vereinbart, viele Mieter haben das Vorkaufsrecht genutzt, bei Krailings hat ein Sohn die Sache übernommen und die Wohnung gekauft.

Längst wohnen nicht mehr nur Postler in der „Siedlung“, die Fluktuation der Bewohner ist größer geworden, die Wohnblöcke sind umstellt von parkenden Autos. Ein Bild, das es so nicht gab, als Renate Krailing eingezogen ist vor 22 000 und ein paar gequetschten Tagen und Nächten. Bald wird sie 86 Jahre alt, natürlich hofft sie auf eine kleine Feier. Die Wohnung im zweiten Stock liebt sie noch immer, und die „wunderschön gehegten und gepflegten und immer schön geschnittenen Grünflächen“ vor und hinter dem Haus. Für sie ist die Siedlung einfach Heimat.



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