Aktion und Veränderung vor 50 Jahren

Die schiefe Turmspitze ist noch heute ein markantes Merkmal der St.-Sebastian-Kirche am Rand des alten Ortskerns von Stierstadt. Der Turm aus dem 14. Jahrhundert durfte beim Abriss der alten Kirche stehenbleiben, der gesamte weitläufige Komplex dahinter mit Gotteshaus und Gemeinderäumen wurde vor 50 Jahren neu erbaut. Aus der alten Zeit stammen auch die hier gut sichtbaren Mauerreste. Foto. js

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Es darf gefeiert werden, auch im ersten Jahr, nach dem ein Virus die Welt und das Leben in der Kleinstadt am Taunusrand verändert hat. Zahlreiche Jubiläen bieten Anlass dafür, mal in schönen Erinnerungen zu schwelgen, mal in besinnlicher Stimmung zu gedenken, aber auch mal nur aufzumerken, wie rasend schnell doch die Zeit vergeht. Was gefühlt kaum gestern war, liegt plötzlich schon Jahre zurück. Der Hessentag etwa, zehn Tage Ausnahmezustand im Traumsommer 2011, das ist schon zehn Jahre her! Mancher besondere Moment gar ein halbes Jahrhundert. Aber eines bleibt gleich, zum Jahreswechsel erfreut Stadtarchivarin Andrea Bott mit kurzem Blick auf aktuelle Jubiläumsdaten.

Im Jahr 2021 muss der Oberurseler nicht auf Pest und Cholera, auf Kriege, Stadtgründung und wichtige verbriefte Rechte zurückblicken, um auf jede Menge Jubiläen zu treffen. Viele Ereignisse, die nun Jubiläumsdaten markieren, haben zahlreiche Bürger selbst miterlebt, ja mitgestaltet oder waren sogar die Protagonisten bei der Entwicklung von Meilensteinen für die Zukunft, die nun Gegenwart ist. Aber wir wollen nicht abschweifen, nur den Blick zurückwerfen, um das Heute vielleicht aus einer anderen Sicht zu betrachten.

Als ob der Ortsteil Stierstadt vor der drohenden Eingemeindung in die Kernstadt ein Jahr später noch ordentlich was erledigen wollte, taten sich die „Sandhasen“, wie das Urvolk dort gerne genannt wird, vor 50 Jahren anno 1971 besonders hervor. Gewachsen war der noch heute prosperierende Ort mit Blick auf den Wohnungsmarkt damals, die Kirchengemeinde St. Sebastian war größer geworden, auch durch Flüchtlinge und Vertriebene in der Nachkriegszeit. Es wurde Zeit für einen neuen Sakralbau im alten Ortskern. Der Frankfurter Bernhard Weber hat das Projekt 1969 übernommen, die Konsekration der Kirche fand im Juli 1971 statt. Rasant – im Vergleich zur Entstehungszeit früherer Kirchen – bezogen wurde der Neubau – man darf das heute sagen – sogar schon kurz vor dem Jahreswechsel. Nur der unter Denkmalschutz stehende alte Turm mit der schiefen Turmspitze blieb stehen, er ist der Westturm der St.-Sebastian-Kapelle von 1348.

Wächst die Kirche, wächst auch die Zahl der Kinder, werden neue Schulen gebraucht. Im Corona-Sommer und -Herbst 2020 wurde der einstige Hauptbau der Integrierten Gesamtschule Stierstadt (IGS) von Baggern in Schutt und Asche gelegt, und seine Einzelteile wurden fein sortiert entsorgt. Der 50. Geburtstag wurde ihm verwehrt, das Haltbarkeitsdatum moderner Schulbauten läuft früher ab als in alten Tagen. Damals, bei der Neueröffnung am 1. Juli 1971, musste man das System IGS noch erklären. „Integrierte Gesamtschulen sind Schulen, in denen alle Schüler, ob mit Hauptschul-, Realschul- oder Gymnasialempfehlung, gemeinsam unterrichtet werden. Ziel dieser Schulen ist es, dass die Schüler das gemeinsame Lernen und den sozialen Umgang miteinander erleben und zugleich ihrem individuellen Leistungsvermögen gemäß unterrichtet und gefördert werden“. So hat sich das gelesen. Die IGS wurde 2009 offene Ganztagsschule, seit dem Schuljahr 2018/19 bietet sie auch die Gymnasiale Oberstufe an. Der erste Jahrgang wird im Jubiläumsjahr das Abitur ablegen. Und der Schulträger wird um die 40 Millionen Euro investiert haben, bis die neue IGS komplett fertig ist.

Kirche, Schule, alles schön und gut, aber in Stierstadt feiern sich vor allem die Menschen gerne. Seit 50 Jahren tun sie das in besonderer Hingabe mit Menschen aus der niederländischen Gemeinde Ursem, die inzwischen Teil von Wester-Koggenland und seit damals mit Stierstadt „verschwistert“ ist, wie man das nennt. Ein eigens gegründeter „Hollandausschuss“ hat sich stets rührig um die funktionierenden Rahmenbedingungen gekümmert. Insider wissen auch, dass einer aus dem innersten Kern der Hollandfreunde schon fast genauso lange mit einem Hollandmädchen verheiratet ist. Seit dieser Zeit gibt es auch schon den Verein der Freunde und Förderer der Schulen Stierstadt und den Tennisclub, der das Hin-und-Her-Spiel nur einen Steinwurf von der IGS und der Ortskirche St. Sebastian entfernt pflegt.

Und sonst? Schon auf 100 Jahre blicken die Naturfreunde Deutschlands in der Ortsgruppe Oberursel zurück, da dürfte es am Mühlrad am Urselbach auch ein schönes Fest geben. Schon 75 Jahre – man mag es kaum glauben – gibt es den Verein „Pro Volkshochschule Hochtaunus“, ein halbes Jahrhundert den „American International Women’s Club“. Was heute immer wieder gerne als Erfolgsmodell gelobt wird und in den gesamten Hochtaunuskreis ausstrahlt, sind die „Oberurseler Werkstätten“. Geboren wurde die Idee einer „Beschützenden Werkstatt“ vor 50 Jahren vom Oberurseler Schreiner August Kunz, begründet wurde sie in einem Werkstattgebäude für 27 behinderte Menschen im heutigen Gewerbegebiet Drei Hasen. Zu Beginn des Jahres 2021 gehen in den Werkstätten mit mehreren Zweigstellen über 500 Menschen ihrer Arbeit nach.

Wer war vor 25 Jahren der erste direkt vom Volk gewählte Landrat im Hochtaunuskreis? Natürlich, der Oberurseler Jürgen Banzer, Urgestein der CDU, der dort noch heute reichlich Fäden zieht. Nach altem Wahlrecht wurde Banzer 1991 vom Kreistag gewählt, das Volk bestätigte ihn im Oktober 1996. Klare Sache schon im ersten Wahlgang mit 54,9 Prozent der Wählerstimmen. Die zweitplatzierte Usinger Bürgermeisterin Eva-Maria Tempelhahn (SPD) kam auf 40,9 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag immerhin bei 41 Prozent, 2018 waren es noch 29,7 Prozent. In diesem Jahr wird auch der Shanty-Chor Oberursel 25 Jahre alt, der Verein „Interaktiv Generationen füreinander“ kümmert sich schon ebenso lange, vor 25 Jahren hat das legendäre „Kaufhaus Mann“ seine Pforten geschlossen. Ihm und auch dem 50. Jahrestag des neuen Hauptfriedhofs gebühren eigene Geschichten.

Weitere Artikelbilder



X