Erfolgsmodell Kunst statt Knast

Die Gründer, Macher und Seelen der Bildhauerwerkstadt „Kunsttäter“: Andreas Hett und Regina Planz in der ehemaligen Autoschlosserei der Feldbergschule zwischen hunderten Arbeitszeugnissen ihrer Klienten. Die Halle ist seit 2006 Arbeitsplatz für alle Kunsttäter. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Seit dem Sommer 2000 haben rund 800 junge Menschen in der Bildhauerwerkstatt der „Kunsttäter“ zu Schnitzmesser und Schleifpapier, zu Hammer und Säge und zu noch viel mehr Werkzeug gegriffen. Für viele wurde die künstlerische Arbeit ein Wendepunkt in ihrem Leben. Gefeiert wird der 20. Geburtstag des Erfolgsmodells nur dezent mit einer Ausstellung in der Bad Homburger Galerie „Artlantis“. Die Arbeit in der Werkstatt auf dem Gelände der Feldbergschule geht weiter.

Andreas Hett sieht die „ersten Jungs“ noch heute vor sich. Junge Kerle, manche durch irgendeinen Blödsinn straffällig geworden, auch ein paar „harte Jungs“. Die Werkstatt im Umspannwerk am Zimmersmühlenweg hat sie vor dem Knast bewahrt. Hier durften sie zu „Kunsttätern“ werden. Es war der Anfang einer ganz besonderen Geschichte, damals kurz nach der Jahrtausendwende. Die Idee von Sozialarbeiter und Kunsttherapeut Andreas Hett wurde von der Jugendgerichtshilfe des Hochtaunuskreises, vom Amtsgericht Bad Homburg und auch von der Bewährungshilfe beim Landgericht Frankfurt sehr positiv aufgenommen. Sein zweiseitiges Konzeptpapier hat die Verantwortlichen überzeugt. Längst gilt die Werkstatt hessenweit als Erfolgsmodell. Statt etwa in Altersheimen arbeiten straffällig gewordene Jugendliche ihre aufgebrummten Stunden in der Kunstwerkstatt ab.

Einer der ersten „Kunsttäter“ aus dem Sommer 2000 – nennen wir ihn M. – ist jetzt knapp 40 Jahre alt. Andreas Hett erinnert sich genau, wie dieser in der ziemlich niedergerockten alten Maschinenhalle auf dem Brachgelände zwischen Frankfurter Landstraße und Zimmersmühlenweg Leitungen gelegt, gelötet, gestrichen, eine Toilette gebaut hat. Freiwillige Extraarbeit, eigentlich sollte es hier um Kunst gehen. Für M. war das Handwerk ein Weg zur Kunst und zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Heute ist er Pflegedienstleiter in einem Seniorenheim und dort auch Betriebsratsvorsitzender. Ein „tolles Beispiel“ ist er für Hett, eines, das im Gedächtnis hängenbleibt, noch heute kommt M. bei Gelegenheit vorbei. „Die behalten uns meist in guter Erinnerung“, sagt auch Regina Planz, die Künstlerin, die mit Hett das Projekt „Kunsttäter“ maßgeblich mit aufgebaut hat. Einige hat sie später wieder getroffen, bei Kunst-Projekten im Rockenberger Gefängnis.

Plötzlich ist es öffentliche Kunst

Um die 800 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 bis 22 Jahren haben in den 20 Jahren in der Bildhauerwerkstatt gearbeitet. „Ein sehr unstetes Publikum“, so Hett mit Blick auf das nicht immer regelmäßige Erscheinen. Manch einer aber wäre gerne auch länger geblieben, manche kamen wieder. Bei vielen steht die Zeit in der ehemaligen Autoschlosserei der Feldbergschule, die seit 2006 Heimat der „Kunsttäter“ ist, für einen Wendepunkt. Hier schaffen sie nach eigenen Ideen Kunstwerke aus Stahl, Holz und Stein, Werke, die plötzlich sogar Teil öffentlicher Kunst in Oberursel werden. Wie „Der Verdrehte“ etwa, der je nach Blickwinkel böse oder freundlich guckt.

Es sind die zwei Seiten, die irgendwie in jedem stecken. Aus einer Taunuseiche ist beim Verdrehten ein 700 Kilogramm schweres Zeugnis jugendlicher Schnitzkunst geworden, zwei Meter hoch und lange Zeit gut sichtbar aufgestellt im Rushmoor-Park. In Blickweite von der Werkstatt, in der an drei Tagen in der Woche insgesamt zehn Stunden gearbeitet werden kann und „irgendwann jeder anfängt zu erzählen“, so Regina Planz. Im neuen Wohnquartier Camp King im Oberurseler Norden stand lange Zeit ein riesiger Holzdrache, bis der Zahn der Zeit ihn zernagte. Eine Arbeit vieler wie andere Werke auch, noch so eine Idee der künstlerischen Resozialisierung, das gemeinsame Entwerfen und Gestalten. Mit kreativer Arbeit sich selbst ein neues Gesicht geben. Mit künstlerischer Arbeit Spuren hinterlassen, einen kulturellen ideellen Wert, etwas, das man stolz Freunden zeigen kann. Werke, die sogar verkauft werden, eine aus Speckstein herausgearbeitete Red Bull-Dose hat es bis ins Silicon Valley schafft. Darauf sind sie stolz in der Bildhauerwerkstatt. Wird etwas verkauft, fließt der Erlös immer in die Vereinsarbeit der „Kunsttäter“.

Danke!

Ein Wort, das im dicken „Gästebuch“ der Werkstatt immer wieder und oft als in sich abgeschlossener Beitrag auftaucht, ist „Danke“. Mehr nicht und doch so viel, gereift zwischen dem greifbaren Material und dem plötzlich ebenso greifbaren Ich, das eine Richtung gefunden hat. In der Kunsttäter-Werkstatt, Hett (56) spricht vom „Findungsprozess im absolut entschleunigten Raum“. Seine Künstlerkollegin Regina Planz (57): „Jeder darf hier ankommen.“ Vielleicht wird es den 25. Geburtstag der Kunsttäter, seit neun Jahren ein eingetragener Verein, in der aktuellen Konstellation noch geben, wenn die finanziellen und ideellen Unterstützer, darunter das Land Hessen, Kommunen, Stiftungen und private Sponsoren, bis dahin bei der Stange bleiben. Spätestens dann wird sich das Gründer-Duo verabschieden, der Abstand wird halt immer größer. Ihre Koordinaten haben das Team und die Kunst-Akteure Murat, Daniel, Meike, Stefanos und noch ein paar mehr mit einem in der Öffentlichkeit präsenten Werk hinterlassen, der GEO-Nadel auf dem Bahnhofsvorplatz in Oberursel. B: 50° 11‘ 55.3‘‘, L: 8° 35‘ 10.0‘‘, klar vermerkt auf der Tafel zum Kunstwerk.

!Von Samstag, 17. Oktober, bis Sonntag, 8. November, sind aktuelle Skulpturen und Plastiken sowie Arbeiten der Kunsttäter aus 20 Jahren in der Bad Homburger Galerie „Artlantis“, Tannenwaldweg 6, zu sehen. Die Vernissage entfällt aufgrund von Corona, auch die im Rahmen der Bad Homburger Kunstnacht geplante 20-Jahr-Feier. Die Öffnungszeiten der Ausstellung sind freitags von 15 bis 18 Uhr sowie samstags, sonn- und feiertags von 11 bis 18 Uhr, am Samstag, 24. Oktober, bis 21 Uhr. Angeboten werden Führungen in kleinen Gruppen. Anmeldung per E-Mail an andreashett[at]onlinehome[dot]de. Nähere Informationen über das Projekt sind im Internet unter www.kunsttaeter.de zu finden.

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