Feine Zwischentöne bestimmen die Lesung „Nach Mitternacht“

Der Veranstalter „Literatouren“ stellt einmal mehr die Güte seines kulturellen Programms heraus. Birgitta Aussheuer rundet mit ihrer Lesung diesen Erfolg ab. Foto: nl

Oberursel (nl). Das Kulturzentrum „Port-strasse“ war wieder einmal ein Anlaufpunkt für eine interessante Diskussion und Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte Oberursels. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Frankfurt liest ein Buch“, in der in diesem Jahr Irmgard Keuns Roman „Nach Mitternacht“ an den verschiedensten Orten und mit unterschiedlichen Künstlern gelesen und besprochen wird, fand auch dieser Abend statt.

Birgitta Assheuer, der die Literaturkritikerin Insa Wilke nachsagt, sie sei begabt mit einem Fledermausgehör für Zwischentöne, stellte einmal mehr unter Beweis, mit welcher Stimmlage sie den Romanausschnitten den richtigen Schliff zu geben versteht. Sie las aus dem Roman, der 1937 im niederländischen Exil zustande kam und dort auch publiziert worden war.

Die Handlung konzentriert sich auf zwei Tage in Frankfurt und eine junge 19-jährige Frau, Sanna, die mit ihren Freunden die politische Situation reflektiert und überlegt, ob sie sich einem unterdrückerischen Regime anpassen oder lieber davor fliehen soll.

Irmgard Keun, die mit ihrem ersten Roman, dem „kunstseidenen Mädchen“ einen großen Erfolg gelandet hatte, hat einen sehr wechsel- und schicksalsvollen Lebenslauf vorzuweisen. Eine Liaison mit Joseph Roth, dem Romancier, der ebenso dem Alkohol verfallen war, wie es Irmgard Keun später zum Schicksal werden sollte, wirkte sich für ihr Schaffen Mitte der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts zunächst sehr animierend aus. Doch in Deutschland durfte die mittlerweile zur Starautorin avancierte, ehemals als Stenotypistin arbeitende Keun nicht mehr publizieren. Anders als andere zeitgenössische Schriftstellerkollegen, die im Exil ihre Stimme verloren, ließ der Schaffensdrang Keuns jedoch nicht nach. Durch und durch vom Schreiben bestimmt, entstanden durch sie viele Frauenfiguren, die sich gesellschaftlichen Regeln widersetzten, um ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben führten.

Was den Abend in den gemütlichen Räumlichkeiten der „Portstrasse“, bestückt mit Korbstühlen, kleinen Bistro-Tischen sowie einem großzügigen Balkon mit weiteren Plätzen für die Zuhörerschaft, zu einem besonderen machte, das brachten die Zeilen einer Autorin zustande, die ebenso aber hier auch glücklicherweise angemessen beachtet und besprochen wurde.

Wie gut, dass die vor 50 Jahren bereits verstorbene Keun, die verarmt unter ihrem Alkoholismus zugrunde ging, heute im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit zurück ist.

!Irmgard Keun, Nach Mitternacht, Claassen Verlag, ISBN: 9783546453745, 22 Euro



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