Oberursel (ba). Welche Bedeutung haben Nachhaltigkeit, Umweltschutz und soziale Verantwortung in Bezug auf Wirtschaft? Dieser Frage ging der 6. Werte- und Wirtschaftskongress nach. Er wird vom „Forum der Selbstständigen Oberursel“ veranstaltet und fand erstmals wegen der Pandemie online statt. Bei einer Befragung der Teilnehmer stellte sich heraus, dass nicht nur Interessierte aus dem Hochtaunuskreis dabei waren, sondern auch aus weit entfernten Regionen Deutschlands und aus dem Ausland.
Organisator Michael Reuter betonte, wie wichtig es sei, über die Herausforderungen und Perspektiven der Zeit zu reden. Nachhaltigkeit, ökonomischer Erfolg und Unternehmensethik würden immer wichtiger, und gelebte Beispiele aus Unternehmen und Institutionen könnten Wege aufzeigen, wie durch neue Strategien dauerhafte Erfolge erzielt werden könnten.
„Wegen Corona, wegen der drohenden Klimakatastrophe, deren Folgen auch schon im Taunus sichtbar sind, wegen stark auseinander gehender Meinungen im öffentlichen Diskurs und starker Polarisierung ist es jetzt besonders wichtig, gemeinsam Verständnis zu entwickeln und zusammen an Lösungen zu arbeiten. Das ist auch Sinn und Zweck des Kongresses“, sagte Bürgermeister Hans-Georg Brum.
Klimawandel in Grenzen halten
Wie bei den vorherigen Kongressen gab es prominente Gäste aus Wirtschaft, Medien und Gesellschaft. Zum Thema „Klimawandel – eine lösbare Weltkrise?“ sprachen Thomas Ranft und Dirk Gratzel. Der bekannte Moderator, Redakteur und Kommunikationsberater Ranft informierte in seinem Vortrag „Klimawandelhype – übertrieben oder gerechtfertigt?“ über wissenschaftliche Erkenntnisse. „Im Rhein-Main-Gebiet gab es in den 50er-Jahren im Sommer nur sehr wenige Tage, die Temperaturen um die 30 Grad erreichten, doch jetzt sind es rund 20 Tage im Jahr mehr.“ Der Klimawandel sei auch in unseren Breiten nicht mehr zu übersehen, doch an den Polen werde es noch dramatischer. „Bis Ende des Jahrhunderts wird es vier Grad wärmer, wenn wir nicht gegensteuern. Es kommt dann zu einer dramatischen, menschgemachten Arten-Aussterbe-Welle“, meint Ranft.
Das Pariser Klimaabkommen ist völkerrechtlich bindend und Klimaziele müssen eingehalten werden, sonst können Länder verklagt werden. Das sei ein Grund für das neue Klimaschutzgesetz. Aus Sicht von Ranft wird jedoch zu sehr gezaudert, Maßnahmen zu treffen und umzusetzen. „Wenn es so weitergeht, wird es 2050 keine Korallenriffe mehr geben.“ Die Corona-Pandemie sei im Vergleich zum Klimawandel relativ harmlos. Die wichtigste Aufgabe sei es nun, absolut ehrlich zu sein und die Menschen zu klimafreundlichem Handeln zu motivieren. „Das wird sehr anstrengend sein, doch wenn es gelingt, werden wir im Ergebnis eine Welt haben, die in vielem besser ist als heute. Wir müssen uns eine bessere Zukunft erträumen, dann haben wir ein Ziel, auf das wir hinarbeiten können!“
Ausgleich der Ökobilanz
Zum Thema „Die Ökobilanz (m)eines Lebens – ist die grüne Null zu schaffen?“ sprach Dirk Gratzel, der viel Aufmerksamkeit durch sein Buch „Projekt Green Zero“ erhalten hat. Der Rechtsanwalt, Unternehmer und Autor hat sich in einem einmaligen Experiment vorgenommen, seinen persönlichen Umwelt-Fußabdruck auf Null zu reduzieren und berichtete von den Hürden und Erfolgen des Projekts: Um ein gutes ökologisches Gewissen haben zu können, änderte er vor einigen Jahren sein Leben. „Ich habe viele Wissenschaftler gefragt, wie man als Einzelner seine Ökobilanz ausgleichen könne, doch damals katte keiner ein Konzept. Schließlich half mir Professor Matthias Finkbeiner aus Berlin, mein bisheriges Leben im Hinblick auf Konsum und Besitz detailliert zu analysieren. Dadurch bin ich der weltweit erste Mensch, dessen Ökobilanz ermittelt wurde.“
Gratzel zog anschließend die Konsequenzen: er sanierte sein Haus energetisch, änderte sein Verhalten im Hinblick auf Mobilität und Konsum, stellte seine Ernährung weitgehend auf vegan um und lebte in jeder Hinsicht bewusster. Er kaufte ein ehemaliges Bergwerk, baute es zurück und renaturierte das große Grundstück. „Wiedergutmachung braucht Förderer“ – davon ist er überzeugt. Auf die Frage eines Kongress-Teilnehmers nach seinem Resümee meinte Gratzel: „Mein Leben hat durch die Beschäftigung mit Ökologie und Nachhaltigkeit eine völlig neue Qualität gewonnen.“
Am Nachmittag widmete sich der Kongress dem Thema „Wirtschaften im Sinne des Gemeinwohls“. Im Impulsvortrag „Die Marktwirtschaft enkeltauglich ausrichten: die Gemeinwohl-Ökonomie als Triebfeder“ erklärte Christian Felber, der Initiator der Bewegung, die Grundlagen: „Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) etabliert ein ethisches Wirtschaftsmodell, in dem nicht Gewinnmaximierung, sondern das Wohl von Mensch und Umwelt als oberstes Ziel des Wirtschaftens gilt. Es geht um ein gutes Leben für alle – und zwar durch eine zukunftsfähige Marktwirtschaft, in der alle auf das Gemeinwohl achten.“
„Dass momentan acht Personen so viel besitzen wie mehr als die Hälfte der Menschheit, das finden viele nicht richtig.“ Im Gegensatz zum kapitalistischen Wertesystem etabliert die GWÖ eine soziale, humane, ökologische, ethisch orientierte Marktwirtschaft. Es gibt bereits etliche Unternehmen, die sich diesen Grundsätzen verpflichtet fühlen. Die Idee ist auch in Artikel 151 der Verfassung Bayerns, die 1946 in einer Volksabstimmung angenommen wurde, formuliert: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl.“ Auch im Rhein-Main-Gebiet gibt es schon einige Unternehmer, die ihre Firmen in diesem Sinn leiten, und es werden immer mehr.
Ein gutes Leben für alle
Als Grundlagen der GWÖ gelten die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, demokratische Grund- und Verfassungswerte, Beziehungswerte nach Erkenntnissen der Sozialpsychologie, die Ethik der Achtung vor der Natur und der Schutz der Erde. Auf wirtschaftlicher Ebene stellt die GWÖ laut Felber eine lebbare, konkret umsetzbare Alternative für Unternehmen verschiedener Größen und Rechtsformen dar. Der Zweck des Wirtschaftens und die Bewertung von Unternehmenserfolg würden anhand gemeinwohl-orientierter Werte definiert. Auf politischer Ebene sei sie ein Motor für rechtliche Veränderung, auf gesellschaftlicher Ebene eine Initiative der Bewusstseinsbildung für Systemwandel, die auf dem gemeinsamen, wertschätzenden Tun möglichst vieler Menschen beruht.
Die Bewegung gebe Hoffnung und Mut und suche die Vernetzung mit anderen Initiativen.
Sie verstehe sich als ergebnisoffener, partizipativer, lokal wachsender Prozess mit globaler Ausstrahlung. Wichtig dabei seien klare Erkennbarkeit der Maßnahmen, neutrale und quantifizierbare Gemeinwohlpunkte. „Damit können Investoren und Verbraucher gute Entscheidungen treffen“, betont Felber.
Innovative Ansätze
In der Diskussion wurde über die Vorteile und die Entwicklungschancen einer wertebasierten Wirtschaft gesprochen. Man war sich einig, dass man nicht einfach so weitermachen könne wie bisher. Auf die Frage „Braucht es eine neue Wirtschaftsordnung?“ antworteten in Umfragen durchschnittlich 90 Prozent der Befragten mit „Ja“.
Fazit aus der Erfahrung des Online-Kongresses: Es wäre wünschenswert, dass der Werte- und Wirtschaftskongress in Zukunft in hybrider Form stattfindet: „live“ in Oberursel und parallel online. Dann könnten Teilnehmer aus der Ferne dabei sein und wer etwas für ihre Ökobilanz tun möchte, könne auf Autofahrten verzichten. Die Inhalte des Kongresses und die Impulse, die sie geben, seien so wichtig, dass mehr Menschen die Möglichkeit bekommen sollten, daran teilzunehmen.