Oberursel (aks). Arvid Neumann war Spieler und Trainer im Leistungssport, Chefarzt einer Rehaklinik und heute Sportwissenschaftler sowie Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Er hat die Faszien-Orthopädie als eine Erweiterung in der Medizin, entwickelt.
Im ausverkauften Kulturcafé macht er Schluss mit der „Fitness-Lüge“, so lautet der Titel seines Buchs, aus dem er an diesem Abend lesen wird, eine gemeinsame Veranstaltung von Antonia Stock von der Buchhandlung Libra und Martina Bollinger von der Bollinger Buchhandlung.
Ihm sei es gelungen, so plaudert der Orthopäde aus Oberursel sympathisch und fundiert, Licht in die atemberaubende Welt der Faszien zu bringen, die scheinbar unbegrenzt verflochten sind und mit Millionen Nervenzellen im Körper kommunizieren. Die Anatomie des lebenden Menschen, die er als Chirurg intensiv erforscht hat, fasziniere ihn, aber besonders habe ihn beschäftigt, wie künstliche Gelenke vermieden werden können. Dabei sehe er immer den Menschen als ganzheitliches Wesen mit Körper, Seele und Geist an. „Der Mensch ist mehr als nur ein Knie“!
Dabei half ihm die wissenschaftliche Reise zum Wunderwerk der Faszien, auf den Spuren des französischen Handchirurgen Jean-Claude Guimberteau, der auch per Video festgehalten hatte, dass Faszien nicht der klassischen Anatomie entsprechen. „Was man sehen konnte, war dickeres und hauchfeines, weißlich bis klardurchsichtiges Gewebe überall im Körper“. Was wie Chaos aussah, entpuppte sich bei genauer Ansicht „als Schwarmintelligenz“, die dafür sorge, so erklärte es Neumann, dass wir uns vital oder eben verspannt fühlten.
Sein Fokus liege auf der Prävention und er möchte mit seinem Buch als medizinisch wissenschaftliche Aufklärung zum Umdenken und Mitdenken anregen. Bei Sportler-Verletzungen könne man feststellen, dass neun von zehn Muskelverletzungen faszienbedingt seien. Der „Muskelkater ist eigentlich ein Faszienkater“.
Und dann ist er auch schon bei seiner steilen These, warum Sport und Fitness krank machen. An prominenten Beispielen von Leistungssportlern, die aus „ihrem Körper ein Schlachtfeld gemacht haben“, macht er das falsche Verständnis von „Stärke“ klar. „Mit immer höherer Belastung wird es schlimmer, nicht besser!“ Für ihn sei es „ein Skandal, dass sich junge Menschen den Körper ruinieren“. Muskelaufbau im Fitness-Studio sei eine Lüge, es gehe darum, im Alltag leistungsfähig und belastbar zu sein, „das heißt aber eben nicht sich schinden, bis der Arzt kommt!“
Der Orthopäde widerspricht der weit verbreiteten Fitness-Manie: „Es geht um das Wie und nicht Wie oft!“. Jeder sollte sich die Frage stellen: „Was will ich erreichen?“ Besser als ein Maximum anzustreben, sei es sich richtig und geschmeidig zu bewegen, besser als im Studio zu trainieren sei es, sich in der freien Natur aufzuhalten: Freude an der Bewegung haben, wie die Kinder, die sich stets mit dem ganzen Körper ausdrücken. Arvid Neumann warnt ausdrücklich davor, diesen natürlichen Bewegungsdrang „einzuschnüren“, in enge Kleidung und Gürtel, starre Schuhe zu pressen, die seien „wie ein Gips“. (Dazu empfiehlt er seinen Podcast: „Natürlich bewegen“). „Jede Bewegung ist einmalig.“ Sein Staunen über das Wunder unseres Körpers und die Vielfalt ist ansteckend. Er selbst gehe am liebsten barfuß, das sei keine Show für die Lesung, sondern authentisch!
„Als Therapeut arbeite ich mit dem, was jeder mitbringt - und das ist genug!“ Seine Warnung: Traumkörper seien meistens ein Resultat des Photoshop und selten real. „Eins mit sich sein und der Welt“, jetzt wird Neumann philosophisch, doch es leuchtet ein, dass der Bauplan der Natur für jeden anders ist und nur wenn wir ihn akzeptieren, zu Leichtigkeit, Balance und einer gesunden Aufmerksamkeit finden.
Arvid Neumanns Buch „Die Fitnesslüge“ soll helfen, die Optionen für mehr Gesundheit zu kennen und selbst aktiv zu werden: „Sich selbst helfen können“, selbstverständlich mit Übungen für den Alltag: „Der ganze Mensch muss sich richtig bewegen“ – und noch einen Schocker schickt er hinterher: „Jeder Sport erzeugt Bewegungsmangel“, weil er die natürliche „ganzheitliche Bewegung“ vernachlässige. Die Zuschauer wirken viel entspannter als zu Anfang, denn Arvid Neumann scheint das Richtige zu fordern, das die Anwesenden nicht überfordert: „Sport ist nicht nötig für die Gesundheit, es geht um die Bewegungsqualität“.
Ein Aufatmen geht durch die Reihen der passionierten Spaziergänger, Hobby-Läufer, Golfer und Tänzer, die einfach aus Spaß an der Freude aktiv sind! Der Applaus gibt seiner Message recht, auch der kleinste Zuschauer, Rumi, eineinhalb Jahre alt, der sich mit seinen Eltern freut, winkt und klatscht - noch macht er alles richtig…