Wenn die Narren Trauer tragen

Orschel Helau! Das waren noch Zeiten, als sich am 11.11. um 11.11 Uhr die gesammelte Narretei aus Groß-Orschel feiernd und jubelnd ohne Masken und Abstandsregeln um den Fastnachtsbrunnen versammelte, um mit der designierten Tollität die Kampagne zu eröffnen. 2012 erhielt Ihre Lieblichkeit Sabine I. (links) als erste weibliche Fastnachtsrepräsentantin bei der Inthronisation am selben Abend Krone und Zepter, um mit Charme und Humor die Narrenhochburg Oberursel bis Aschermittwoch zu regieren. Foto: Archiv

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Trostlos dieser 11.11. 2020 am gestrigen „Feiertag“ aus Narrensicht. Tote Hose auf den Straßen, lähmende Leere an den Orten, wo traditionell altes Brauchtum gepflegt wird. „Ausgeschunkelt“ informiert die Website des Narrenrates, der Dachorganisation der fünf Fastnachtsvereine in Oberursel, unter der Rubrik „Aktuelles“. Darunter eine Karikatur, der Narr mit Maske zeigt dem Virus die lange Nase, aber dieses schaut grimmig und fletscht die Zähne.

Die Informationen der närrischen Vereinigungen sind eindeutig und gleichlautend in Oberursel und Bad Homburg. „Fastnacht in Orschel fällt aus“, heißt es da, alles abgesagt bis hin zum Höhepunkt, dem „Taunus-Karnevals-Zug“ mit Teilnehmern aus der gesamten Region in der närrischen Hochburg Oberursel. Auf den Valentinstag am 14. Februar 2021 war er datiert. Und nun? Trotz allem Frust suchen die Karnevalvereine zumindest nach kleinen Alternativen zur herkömmlichen Fastnacht. Jetzt, wo der Startschuss schon ein erzwungener Rohrkrepierer war. Dieser 11.11. wie es ihn noch nie gab in der Geschichte des Taunus-Karnevals.

Klaus-Peter Hieronymi findet nichts dergleichen in seinen närrischen Erinnerungen. Ob er gestern den Narrhallamarsch aufgelegt und dem Mann zugeprostet hat, der ihn da aus dem Spiegel angesehen hat? Vielleicht hat dieser sogar eine Narrenkappe getragen, ein paar Orden. Wie das für ihn so üblich ist seit vielen, vielen Jahren. Schließlich haben sie ihm die Fastnacht in die Wiege gelegt. Klaus-Peter Hieronymi, als „KP“ ist er in der Stadt wohlbekannt. Ein Mann mit 25 Jahren närrischem Sitzfleisch unter dem Buckel als Sitzungspräsident des Karnevalvereins „Frohsinn“ Oberursel, hat am 11.11. Geburtstag. Jedes Jahr ein doppeltes Fest. Bisher jedenfalls, aber in diesem verrückten Jahr gab es an diesem institutionalisierten Tag keine Eröffnung der närrischen Kampagne. „Alternativlos“, merkt „KP“ lakonisch an. „In ein Loch gefallen“ ist er deshalb nicht. So ernst darf der weise Narr den Karneval nicht nehmen.

Der „elfte Elfte“ ein trauriger Tag, weil der Anfang einer ganz besonderen Zeitspanne im Jahr sozusagen gestrichen wurde. Und die vielen weiteren Feiertermine danach auch. Aber: „Karneval kann man nicht absagen, das ist Brauchtum. Weihnachten kann man auch nicht absagen.“ Das ist die begründete Philosophie, die bekennende Fastnachter wie Ina Krause und Stephan Remes im aktuellen Schmerz tröstet. Die Termine dafür sind korrekt im Kalender eingetragen. Und innerlich, darin sind sich die Vorsitzenden der beiden größten Karnevalvereine in Bad Homburg und Oberursel einig, findet am 11.11. jeder einen Weg, das Fest zu zelebrieren. Auch wenn es am Wichtigsten fehlt, der Gemeinsamkeit beim Lachen und Feiern. „Virtuell schunkeln?“ Was für eine Idee. „Nicht für mich als Fastnachter“, sagt Oberursels Narrenrat-Chef Harry Hecker. Karneval ist Leben im analogen Raum.

Keine Böllerschüsse, kein Prosecco

Doch dieser Raum – auf der Straße, auf öffentlichen Plätzen und in Vereinshäusern – ist gesperrt. Der Traum von den üblichen großen Veranstaltungen ist längst ausgeträumt, aber bis Anfang November war wenigstens noch ein kleiner Traum vom 11.11. im närrischen Hirn verankert. Brauchtumspflege eben, die Eröffnung der Saison mit kleiner Zeremonie. Ohne die übliche Party im Foyer der Sparkasse mit einem Glas Prosecco und einem ersten Helau, das war schon lange klar. Aber mit der „Sandlies“ im Schlepptau vom Kurhaus hoch zum Bad Homburger Schloss ziehen und dort wie üblich um 11.11 Uhr elf Böllerschüsse mit der „Sandlies“ abgeben. So wollten sie es halten in der Kurstadt. Mit wenigstens ein paar Narren, von Ina Krauses Homburger Carneval-Verein (HCV), vom Club Humor, vom CV Heiterkeit und von den Freunden des Carneval. „Am schlimmsten ist, dass man die Gleichgesinnten nicht trifft“, sagt Ina Krause. „Gemeinsame Erinnerung, gemeinsame Vorfreude, gemeinsam lachen, ein bisschen Heiterkeit und Leichtigkeit.“

„Der Narr bläst Trübsal“

Noch sind alle dabei, der Zusammenhalt ist da, die Mitglieder bleiben den Vereinen treu. Training der Tanzgarden findet zum Teil über Live-Stream statt, seltsame Wege und doch manchmal besser als gar nichts, heißt es bei den Vereinen. Die Narren bleiben sich treu, auch wenn sie ihrem ureigenen Sinn, dem Erhalt des fastnachtlichen Brauchtums, nicht mehr nachkommen können. Das bestätigen neben Ina Krause auch Stephan Remes vom KV Frohsinn Oberursel und Harry Hecker, der mit allen Vereinen in stetem Kontakt steht. Der „Frohsinn“ konnte im vereinseigenen Haus mit ausgefeiltem Hygienekonzept lange Zeit den Trainingsbetrieb aufrechterhalten, schlimmer als die nun verordnete Zwangspause wiegt inzwischen der finanzielle Verlust. Weil neben den Fastnachtsterminen auch alle anderen Feste im Jahreslauf wegfielen, bei denen der Verein normalerweise das Geld zur Finanzierung des Vereinshauses erwirtschaftet. Brunnenfest, Theater im Park, Weihnachtsmarkt, alles gestrichen im Corona-Jahr. „Massive Probleme“, so Remes, drohen da, Verluste im fünfstelligen Bereich, die dringend nötige Schwamm-Sanierung und die Reparatur am Dach sind da noch nicht drin.

„Der Narr bläst Trübsal“, sagt „KP“ in seiner gewohnt trockenen Art. Keiner ist zum „Narrenbrunnen“ mit der Eselsreiterin und dem Narr mit der Schelle am Marktplatz gezogen, um die „fünfte Jahreszeit“ am 11.11. um 11.11 Uhr mit elf Böllerschüssen und einem „dreifach donnernden Helau“ zu begrüßen. Stephan Remes hatte Urlaub wie immer an diesem Tag seit 36 Jahren. Eine „Video-Schalte“ im engsten Kreis mit einem zarten Helau und „Zuprosten mit Kaltgetränk“ musste reichen. Und der Hoffnungsschimmer am Horizont. In den Frohsinn-Hinterzimmern wird schon fleißig an einem kreativen Konzept für ein „Fastnacht-Open-Air“ auf dem Vereinsgelände gebastelt. Ende Januar vielleicht, kurz vor den „tollen Tagen“, damit die Narren wenigstens einen Höhepunkt erleben können, wenn sich die Zeiten bis dahin bessern. Die fröhliche Ina Krause lässt sich ihre Heiterkeit auch jetzt nicht durch ein Virus verbiegen. Sie hat die Saison gestern „gebührend eröffnet“, mit Luftschlangen, Orden und Konfetti und natürlich einem Gläschen Prosecco um Gongschlag 11.11 Uhr. Zu zweit mit ihrer Kollegin im kleinen Betrieb, aber vereint im Geiste mit allen anderen.

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