Geschichte am Grenzstein vom Riesen auf der Stierstädter Heide

Die Stifter Peter und Hildegard Lauer (rechts vorne) weihen „ihren“ Grenzstein zusammen mit Markus Ganser (dahinter) und Brunnenkönigin Pia I. (links) ein. Foto: HB

Oberursel (HB). Das schöne Stück Sandstein steht noch verborgen im Kiesbett. Man hat ihm einen Plastiksack übergestülpt und mit Klebestreifen festgezurrt. Als die Karawane der Grenzgänger eingetroffen ist, kann er aufatmen und wird von dem Korsett befreit. Seit Willy Seidenthal diesen Brauch 2001 wiederbelebt hat, ist die Stierstädter Gemarkung jedes Jahr mit einem solchen Stein markiert worden. Der jüngste steht am Asphaltweg unterhalb der einstigen Ponto-Villa, in dem der Vorstandschef der Dresdner Bank von einem RAF-Kommando ermordet wurde. Das war vor 42 Jahren. Aber das ist nicht das Thema.

Der Großmeister des 17 Kilometer langen Marschs hat den knorrigen Wanderstab an seinen Enkel weitergereicht, der mit dem Kerbe-und Brauchtumsverein die Traditionpflege übernommen hat. Am vergangenen Samstag geht es morgens um 8 Uhr am Sonnenhof los, aber ohne Seidenthal Senior, der die Aufgabe abgegeben hat. Der Grenzgang wird nicht neu erfunden, aber diesmal gibt es einen Perspektivwechsel – wandert die halbe Hundertschaft doch erstmals gegen den Uhrzeigersinn. Im von der S-Bahn durchschnittenen Wiesengrund wird Gerhard Belitz zum Wortführer. Auf Höhe des Pfaffenwegs werden Bilder aus seiner Kindheit lebendig, als die vierköpfige Familie eine knapp zehn Quadratmeter große Hütte ihr Zuhause nannte. „Es war die östlichste Behausung in ganz Stierstadt,“ erinnert er an die 50er-Jahre. Die aus Mecklenburg-Vorpommern übergesiedelte Familie war froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Geschichte ging weiter: Gerhard hat dort bis 1974 gewohnt, der Vater gar bis zu seinem Tod 2014. Danach wurde die Hütte abgerissen.

Es ist gegen 11, da singt der Vereinsvorsitzende Markus Ganser am 18. Grenzstein, dem am Ponto-Grundstück, das hohe Lied von Peter und Hildegard Lauer, die für das Exemplar aus einer Odenwälder Steinmetzwerkstatt 600 Euro hingeblättert haben. Ein Dankeschön für die freundliche Aufnahme des Maschinenbauingenieurs in den 1960ern. Zwei Jahre später folgte die Hochzeit mit der Stierstädterin – bis heute hat er sein Eheversprechen gehalten. In den Beifall für die Steinstifter stimmen Brunnenkönigin Pia und Brunnenmeister Mathias ein, die nach 6,8 Kilometern gemeinsam mit den anderen in den Forst eintauchen und schon nach wenigen Metern – es bedarf keiner Erläuterung – erkennen, dass es dem Wald gar nicht gut geht. Borkenkäfer haben den geschwächten Fichten übel zugesetzt. Wo sie einmal standen, ist eine Schneise geschlagen worden, und die Förster machen sich Gedanken über die sinnvollste Aufforstung. Jagdpächter Josef Göbel kann ein Lied vom Siechtum des Waldes singen. In seinem Revier auf Oberurseler Grund sind 2000 Bäume nicht mehr zu retten.

Der Waidmann treibt mit dem Wald seine Späßchen und hat einen Bierhahn in eine Kastanienrinde getrieben, den Baum kurzerhand zum Schnapsbaum erklärt. Doch nach allem, was man weiß, steigt in dem Stamm noch kein alkoholhaltiger Saft empor. Der Hochprozentige kommt aus dem Flachmann.

Noch während der deftigen Brotzeit zückt Stadtführerin Marion Unger – im knöchellangen mittelalterlichen Gewand, einen mächtigen Schlüssel am Gürtel – einen Band mit Mythen, um daraus die Entstehungsgeschichte der Heide vorzulesen. Die wächst heute auf einer Fläche von 3,2 Hektar und muss um die Existenz bangen, weil sie von jungen Laubbäumen umzingelt wird. Wenn die Naturschützer nicht zweimal im Jahr zur Rettungsaktion schreiten würden, das Naturschutzgebiet wäre längst zugewachsen

Als die Heide das Wachsen lernte, sollte sie das Grab eines Riesen schmücken, der auf der Stierstädter Höhe vom Blitz erschlagen wurde und von seiner Gattin Anna, einer Oberurselerin, daselbst bestattet wurde. Die Heide war schließlich nicht mehr zu bremsen und bedeckte das gesamte Plateau. Damit beendete die Stadtführerin, eine profunde Kennerin der Oberurseler Historie, die Lesung So könnte es gewesen sein, vor 400 oder 500 Jahren, als im damals selbständigen Stierstadt noch kein Mensch an den Grenzgang dachte.

Ganz zum Schluss kam Tim Seidenthal zu Wort und sprach über Ackerbau und Pferdezucht. Der 24-Jährige bewirtschaftet 30 Hektar Grün- und genauso viel Ackerland. In seinen Boxen stehen 80 Pensionspferde.



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