Von Fachkräftemangel, Pflegenotstand und „Babyboomer-Rente“

Königstein (mk) – Auch in Königstein und den unmittelbaren Nachbarstädten gibt es bekanntlich zahlreiche Kliniken, Krankenhäuser, Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen. Die Definition für „Pflegenotstand“ lautet: der Mangel an Personal, das sich beruflich um kranke, behinderte und alte Menschen in Heimen und Krankenhäusern kümmert und betreut. Der Begriff Pflegenotstand ist allerdings nicht neu. Bereits seit den 60er und 70er Jahren, als in Deutschland Krankenhäuser und Altenpflege ausgeweitet wurden, führte dies zu massivem Personalmangel. Über 60 Jahre später (ein doch sehr langer Atemzug) hat es den Anschein, dass sich die Situation nicht erheblich gebessert hat – im Gegenteil.

Nach der „Hoch-Zeit“ der schwer Erkrankten während der Coronapandemie flachte die Aufmerksamkeit und das „in die Hände Klatschen“ für das Pflegepersonal schnell ab. Zumal sich der Beruf schon vorher nicht unbedingt attraktiv gestaltete und auch nicht den besten Ruf hatte. Besonders in der Altenpflege ist der Notstand hoch, aber auch in den Krankenhäusern ein akutes Problem. Die Fluktuation junger Pflegekräfte ist sehr hoch und verschärft die Gesamtsituation. Viele junge ausgebildete Pflegekräfte blieben nicht lange in ihrem Beruf, weil sie mit der hohen Arbeitsbelastung bei geringem Lohn unzufrieden seien, heißt es.

Auch in den 60er und 70er Jahren wurde bereits häufig auf ausländisches Pflegepersonal zurückgegriffen, da die Pflegedienste einfach nicht genug deutsche Pflegekräfte fanden. Sollte hier nicht sehr bald ein Umdenken und Umstrukturieren – auch seitens der Politik – stattfinden, wird der Pflegenotstand vermutlich zu einem „Pflegenotdrama“, das man sich nicht ausmalen möchte.

Zwar wurden während und seit der Pandemie einige Gesetze und Reformen beschlossen, die dem Desaster entgegenwirken sollen, doch wurde vermutlich zu viel Zeit verschlafen, um diese noch aufholen zu können? Die Mühlen der Bürokratie scheinen zu langsam zu mahlen gegenüber wachsender und immer älter werdender Bevölkerung (Stichwort: Demographischer Wandel / Demenzerkrankungen).

Hinzu kommt, dass sich der Pflegenotstand durch die Pandemie und falsche Entscheidungen aus der Politik wohl obendrein verschärft haben dürfte. Höhere Arbeitsbelastungen, Personalausfall, geringe Wertschätzung, Burnouts und Kündigungen belasten seither zusätzlich das Gesundheitssystem. Laut einer Studie von Juli 2020 (Quelle: NCIB / National Library of Medicine) führten diese Umstände bei Pflegekräften zu „starken psychischen und körperlichen Belastungen“ wie Ängsten, Schlafstörungen und Depressionen. Das damalige „Applaudieren“ – schön und gut, aber Pflegefachkräfte wollen ernstgenommen werden und Verbesserungen „an Leib und Seele“ spüren – langfristig. Die Würdigung im Gesundheitssystem für diese anstrengenden Berufe ist längst überfällig.

Aktuell arbeiten hierzulande rund 1,7 Millionen Menschen im Pflegedienst, darunter zirka 460.000 in Krankenhäusern und 1,2 Millionen in der stationären und ambulanten Altenpflege. Letztere sind aber für über 4 (!) Millionen Pflegebedürftige zuständig. 2022 wurden sogar fast 4,9 Millionen Personen mit einem Pflegegrad angemeldet. 2023 könnte die Zahl schätzungsweise auf über 5 Millionen Menschen im Betreuungs- und Pflegesystem ansteigen. Fazit: Die Rechnung scheint schon lange nicht mehr aufzugehen – wen wundern dann wirklich noch diverse Reportagen über desaströse Zustände in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen? Der Pflegenotstand dürfte sich dementsprechend in den nächsten Jahrzehnten weiter zuspitzen. Man geht davon aus, dass es ab dem Jahr 2060 weit über 6 Millionen Pflegebedürftige geben wird. Denn auch die Prognosen für Demenzerkrankungen steigen Jahr für Jahr.

Die Pflegekommission

Allen Pflegeberufen ist gemein, dass sie zwar „systemrelevant“ sind, aber immer noch nicht gut genug bezahlt. Als „Überbrückung“ trat im November 2019 das „Pflegelöhneverbesserungsgesetz“ in Kraft, welches auf Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AentG) entworfen wurde. Dieses Gesetz (Quelle: gehalt.de / Stand März 2022) besagt, „dass eine Notwendigkeit für eine stetige Anpassung des Mindestlohns für die Pflegeberufe besteht“. Auf diesem Grundsatz wurde auch eine Pflegekommission dauerhaft eingerichtet, die regelmäßig über die Höhe des Mindestlohns bestimmt. Ab 1. Mai 2023 bekämen „Pflegehilfskräfte“ demnach mindestens 13,90 Euro (ab dem 1. Dezember dann 14,15 Euro). „Qualifizierte Pflegehilfskräfte“ mit mindestens einjähriger Ausbildung ab 1. Mai 14,90 Euro (ab dem 1. Dezember dann 15,25 Euro) und „Pflegefachkräfte“ ab 1. Mai 17,65 Euro (ab dem 1. Dezember dann 18,25 Euro). Zudem „empfehle“ die Kommission bezahlten Mehrurlaub für Beschäftigte mit einer 5-Tage-Woche für das Jahr 2023 und 2024 für jeweils neun Tage.

In die richtige Richtung?

Seit dem 1. September 2022 sind nur noch Pflegeeinrichtungen zur „Versorgung“ zugelassen, die ihre Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif oder „kirchenarbeitsrechtlichen“ Regelungen oder mindestens in Höhe eines Tarifvertrags oder der besagten Regelungen bezahlen. Sind Pflegeeinrichtungen nicht tarifgebunden, sind sie ebenfalls verpflichtet, Gehalts- und Vertragsanpassungen vorzunehmen. Pflegeeinrichtungen müssen also noch mehr Vorschriften zur Einhaltung der gesetzlichen Tariflöhne beachten, die Arbeitsverträge gegebenenfalls mit den Pflegekräften entsprechend ändern usw. – bedeutet: noch mehr Bürokratie, Verwaltung und noch mehr Komplexität.

Aber bedeutet mehr Lohn auch gleichzeitig mehr Pflegepersonal?

Fakt ist, wie in jeder anderen Branche auch, dass ein angemessenes Gehalt keinen Fachkräftemangel, keinen Zeitdruck und auch die Überstunden nicht ausgleichen kann. Zudem gab es in der Vergangenheit immer wieder Negativschlagzeilen über das – laut Verdi – „Kernproblem“ der Pflege: Private Geldgeber wie Investoren und internationale Konzerne investieren dank hoher Rendite und hoher Sicherheit in Pflegeimmobilien. Während öffentliche Heime kaum über die Runden kommen, weshalb der Trend auch zur Privatisierung geht.

Skandinavische Länder gelten in der Pflege als Vorbilder, da sie Kranken- und Altenversorgung kommunal organisieren und durch Steuern finanzieren. Entsprechend herrschen deutlich bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, weshalb Patientinnen und Patienten eine qualitativ hochwertige Versorgung erhalten. Dies könnte auch eine Lösung für Deutschland sein, setzt allerdings die Bereitschaft voraus, die Pflege als eine Sache der Gemeinde anzusehen. Schlussendlich benötigt die Pflege einen Trend weg von der Gewinnmaximierung – wieder hin zum Sozialen –, um den Pflegenotstand endlich zu beheben.

Um den steigenden Arbeitskräftebedarf decken zu können, benötigt Deutschland Arbeitskräftezuzüge aus Drittstaaten. Wie diese Statista-Grafik zeigt, bräuchte der deutsche Arbeitsmarkt im Zeitraum von 2018 bis 2035 pro Jahr mindestens 98.000 zugezogene Arbeitskräfte. In den folgenden Jahrzehnten erhöht sich der Bedarf auf bis zu 197.000 Personen pro Jahr (Stand August 2022).

Quellen: statista.com / gehalt.de / ecovis.com

Weitere Artikelbilder



X