Rettungsdienste arbeiten am Limit – Bundesweit Engpässe in der präklinischen Notfallversorgung

Bad Homburg. – Die Rettungsdienste arbeiten bundesweit am Limit. Steigende Einsatzzahlen, immer mehr Bagatellfälle, die keiner Klinikeinweisung bedürfen, aber wertvolle Kapazitäten blockieren, dazu fehlendes Personal – in vielen Bereichen der Republik droht der Zusammenbruch eines über Jahrzehnte funktionierenden Systems. Beim DRK-Kreisverband hat man die Probleme im Fokus, sieht sich einem ganzen Bündel von Herausforderungen gegenüber, hat aber auch schon Lösungsansätze, wenngleich die ursächlichen Probleme primär auf Landes- und Bundesebene zu suchen sind.

Stark steigende Einsatzzahlen, Nachwuchsmangel, hohe, auch coronabedingte Krankenstände – republikweit arbeiten die Rettungsdienste am Limit, vor allem in den bevölkerungsstarken Ballungsräumen der Millionenmetropolen München, Hamburg, Köln und Berlin. In der Hauptstadt beklagt die dort für den Rettungsdienst zuständige Berufsfeuerwehr den Notstand, bei dem es jüngst Phasen gab, in denen laut Medienberichten für die ganze Stadt gerade mal ein Rettungswagen einsatzklar war. Teils werden Patienten mit Feuerwehrautos in die Kliniken gebracht. Der Notstand im Rettungsdienst wird dann ausgerufen, wenn 80 Prozent der Rettungsmittel im Einsatz sind.

Zu den Ballungsräumen der Republik zählt auch der Hochtaunuskreis mit der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main. Droht hier ebenfalls der Zusammenbruch des Systems? Jürgen Banzer, Präsident des DRK-Kreisverbandes, beobachtet die Entwicklung im Rettungsdienst sehr genau, er ist auch in einer gewissen Sorge, verfällt aber nicht in Panik: „Wir wollen nicht schwarzmalen, aber da entwickelt sich gerade ein Problem für unseren hauptamtlichen Rettungsdienst. Wir vom DRK, aber auch der Hochtaunuskreis als Träger des Rettungsdienstes, die Krankenkassen als Kostenträger, die Kassenärztliche Vereinigung, letztendlich aber auch der Ärztliche Bereitschaftsdienst (ÄBD) müssen so rechtzeitig geeignete, abgestimmte Maßnahmen in den Fokus nehmen und besonnen agieren, dass es nicht zum Kollaps kommt. Wir arbeiten daran.“

Banzer steht dazu gemeinsam mit DRK-Kreisgeschäftsführer Heiko Selzer, dem Bereichsleiter Rettungsdienst, Felix Seegert, dessen Stellvertreter Heiko Himmelhuber, dem Ärztlichen Leiter Rettungsdienst beim Hochtaunuskreis, Prof. Dr. Volker Lischke sowie dem Fachbereich Brand- und Katastrophenschutz im Landratsamt im ständigen Austausch. Man arbeite intensiv an Lösungen, wisse aber auch, dass es ein sehr breitgefächertes Bündel an Herausforderungen abzuarbeiten gelte, erklärt Banzer.

Oben auf der Liste der Probleme stehe der seit ein paar Jahren anhaltende Anstieg der Einsatzzahlen, jährlich im mittleren dreistelligen Bereich, was sich in dieser Höhe weder mit dem Bevölkerungszuwachs, noch mit Corona-Einsätzen erklären lasse. Genaue Zahlen kann das DRK nicht nennen, weil die gesetzlich zulässige Systematisierung der Indikationen dies nicht zulässt. „Unsere RTW-Besatzungen berichten aber immer häufiger, dass sie zu Patienten gerufen werden, deren Zustand oft keinerlei notfallmedizinische Versorgung erfordert – diese Bagatelleinsätze blockieren dann hochqualifizierte Helfer und Rettungsmittel, die an anderer Stelle vielleicht sehr viel dringender benötigt werden, das System stößt hier an seine Grenzen, zumal wir Patienten auch ohne notärztliche Einweisung in die Klinik fahren müssen, wenn sie das fordern“, erläutert Felix Seegert die Problematik, die noch eine weitere Facette hat: Mit der Einführung des neuen Berufsbildes „Notfallsanitäter“ (NFS) 2014 wurde die Qualifikation der Rettungskräfte zwar noch weiter angehoben. Die dreijährige Ausbildung kann jedoch nicht verkürzt werden, auch dann nicht, wenn sich fertig ausgebildete, erfahrene Rettungssanitäter weiterqualifizieren wollen. „Die drei Jahre, die es gedauert hat, bis der erste NFS-Jahrgang an den Start gehen konnte, haben ein großes Loch in unsere Personalplanung gerissen, das wir auch acht Jahre später wegen des Nachwuchsmangels noch vor uns herschieben. Unsere RTW müssen aber mit mindestens einem Notfallsanitäter besetzt sein, das ist Gesetz – gut für die Patienten, schwierig für die Umsetzung“, ergänzt Heiko Himmelhuber.

Seegert geht davon aus, dass der Anteil der Bagatelleinsätze noch zunehmen wird, auch die Zahl der Gesamteinsätze werde sich weiter erhöhen, womit die Auslastung der Rettungsmittel ebenfalls steige. Die Vorhaltung von Rettungsmitteln und Personal müsse dieser Entwicklung angepasst werden. Wie DRK-Präsident Banzer sieht auch Seegert darin ein bundesweites Problem, bei dem das Delta zwischen Bedarf und Ist-Zustand bei den Fachkräften „Notfallsanitäter“ immer größer werde. Es reiche nicht, die Quantität durch den verstärkten Einsatz so genannter Notfall-Krankentransportwagen (N-KTW) zu steigern, solange die Qualität nicht in gleichem Maße verbessert werde. Natürlich müsse jeder Patient die ihm gebührende, aber auch ressourcenschonende Hilfeleistung und Behandlung erfahren, das sei überhaupt keine Frage. Jedoch müssten die Systematisierung der Indikationen und die Disposition enger miteinander verzahnt werden, insbesondere bei der Interaktion zwischen ÄBD und Rettungsdienst, wobei man hier aber an juristische Grenzen stoße. Großen Teilen der Bevölkerung sei der Unterschied zwischen ÄBD und Rettungsdienst nicht klar: Während der ÄBD Patienten jederzeit an den Rettungsdienst überweisen kann und dies mangels Kapazitäten häufig auch tue, müsse es bei nicht indikationsbezogenen Notfällen auch in umgekehrter Richtung funktionieren, sind sich Seegert und Banzer einig. Adressiert wird damit aber noch ein weiteres Problem: Für den Rettungsdienst gilt die gesetzliche 10-minütige Hilfsfrist, binnen der ein Patient erreicht und seine Behandlung eingeleitet sein muss, für den Ärztlichen Bereitschaftsdienst aber nicht, ein großes Problem für die Dispositionstaktik.

Mit einiger Sorge beobachtet DRK-Präsident Banzer auch, dass nicht nur die Einsatzzahlen extrem steigen, sondern dass die Einsätze auch immer länger dauern: „Die Kollegen berichten mir, dass Patienten mit lebensbedrohlichen Verletzungen oder Erkrankungen wegen knapper Bettenkapazität auf den Intensivstationen, aber auch Fachpersonalmangel in den Kliniken nach Darmstadt, Marburg, Fulda oder sogar Kassel gebracht werden müssen. Für die Vorhaltung von Rettungsmitteln und Personal hier bei uns im Hochtaunus ist es in solchen Fällen natürlich ein Problem, wenn ein RTW mit Besatzung im Extremfall vier oder fünf Stunden unterwegs ist und das Einsatzaufkommen durch effektiv weniger Rettungsmittel kompensiert werden muss.

Der Kreisverband versuche, dieser Entwicklung unter anderem mit einer Ausbildungsinitiative zu begegnen, „wir müssen jungen Leuten vermitteln, dass der Beruf des Notfallsanitäters, aber auch der des Rettungssanitäters sehr attraktiv ist“, sagt Banzer. Er hofft, dass die jüngst im Hochtaunuskreis durchgeführte „Nacht der Ausbildung“, bei der sich auch rund 100 junge Leute auf der Rettungswache über eine Ausbildung beim DRK informiert haben, Früchte trägt. Für 2023 ist, abgesehen von der Anhebung der Ausbildungsplätze, eine signifikante Aufstockung des rettungsdienstlichen Personals im Hauptamt fest eingeplant. „Teil des Systems sind nicht zuletzt aber auch unsere ehrenamtlichen Helfer in den mit Rettungswagen ausgerüsteten Ortsvereinigungen, die bei Engpässen im Hintergrund alarmiert werden müssen“, sagt Banzer, der die enorme Einsatzbereitschaft im Ehrenamt, aber auch im Hauptamt als „Rückgrat des Rettungsdienstes“ bezeichnet: „Man kann es nicht oft genug betonen, aber diese Menschen, ganz gleich ob haupt- oder ehrenamtlich, leben die DNA des Roten Kreuzes rund um die Uhr und gehen dabei bis an ihre Belastungsgrenze, nicht selten auch darüber hinaus. Das verdient nicht nur unsere Hochachtung als Verband, sondern auch die unserer Gesellschaft.“

Entlastet werden könnte der notärztliche Rettungsdienst unter anderem durch das Pilotprojekt „Telenotarzt“, an dem der Rettungsdienst des DRK-Hochtaunus beteiligt ist: „Dabei wird ein speziell ausgebildeter Notarzt via Live-Stream direkt mit der RTW-Besatzung im Rettungswagen verbunden. Die Nachforderung eines arztbesetzten Rettungsmittels könnte sich dadurch wohl in vielen Fällen erübrigen. Wir beim DRK erhoffen uns dabei auch Entlastungen in der Versorgungsstruktur allgemein“, erläutert Seegert.

Für eine mögliche Entlastung des Rettungsdienstes kann, so die Hoffnung des DRK-Kreisverbandes, zunehmend auch die Dienstleistung des Hausnotrufes sorgen. Der dazugehörige Bereitschaftsdienst kann von der Zentralen Leitstelle bei Auslösen des Gerätes alarmiert werden. Die Kräfte können vor Ort die Lage einschätzen, gegebenenfalls weitere Hilfe anfordern oder oftmals die Notlage auch direkt beheben – beispielsweise bei einem Sturz, der keine größeren Blessuren nach sich gezogen hat. Die dabei eingesetzten Helfer sind entsprechend qualifiziert und in der Praxis ein immer wichtigerer werdender, für Entlastung des Rettungsdienstes sorgender Bestandteil der Rettungskette. „Der Hausnotruf ist ein von den Krankenkassen anerkanntes Pflegehilfsmittel bei Patienten ab Pflegegrad I, die Kosten werden also übernommen“, wirbt Kreisgeschäftsführer Heiko Selzer dafür, dass sich noch weit mehr ältere und alleinstehende Menschen für dieses von mehreren namhaften Wohlfahrtsverbänden zur Verfügung gestellte, niederschwellige Angebot entscheiden. Auch Präsident Banzer sieht darin einen wirkungsvollen Ansatz bei der Entlastung des Rettungsdienstes: „Ein entscheidender Vorteil beim Hausnotruf ist, dass an mehreren Stellen im Kreisgebiet Tresore mit den Schlüsseln der Hausnotruf-Kunden stehen.

Die eingesetzten Kräfte können so längst beim Patienten sein, während der Rettungsdienst oder der Bereitschaftsarzt noch vor verschlossener Türe steht und auf die Feuerwehr warten muss.“



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