Tobias auf dem Weg zur Form seines Lebens

Von den Mitspielern respektvoll „unser Messi“ genannt, ist Tobias (rechts) durch seine Übersicht und seinen geschickten Umgang mit dem Ball eine wichtige Stütze für das Team United.

Von Sebastian Theuner

Hochtaunus. Meist sind es die kleinen Momente, die einen Menschen am eindrücklichsten beschreiben. Jene, die am Rande geschehen, unbemerkt von der großen Masse. Wenn Marius, Spieler der inklusiven Fußballmannschaft Team United, von Teamkapitän Tobias Wentzell erzählt, erinnert er sich an ein Turnier vor einigen Jahren. Unter vermeintlichen Knieschmerzen habe Tobias damals gelitten, die anwesenden Sanitäter herbeigerufen, sich auf die Trage hieven lassen. Bis er sich vor Lachen schließlich nicht mehr halten konnte. Denn Tobias hat keine Knie, und auch keine Oberschenkel.

Tobias leidet unter dem seltenen FHUF-Syndrom, einer Form des Kleinwuchses, die es weltweit nur etwa 100 Mal gibt. In Deutschland ist sie einzigartig. 1,20 Meter misst Tobias, in seinem Team ist er der Kleinste. Und doch der Mann für die großen Späße. „Er ist lustig, lebensfroh und immer gut drauf“, sagt Teamkollege Marius über ihn.

Tobias’ Umgang mit seinem Handicap beeindruckt – umso mehr, wenn man um die Komplikationen zu Beginn seines Lebenswegs weiß. „Die Ärzte haben nach meiner Geburt gesagt, dass ich nicht werde laufen können“, erzählt Tobias. Stattdessen hätten sie sich erst einmal in den USA über seine Krankheit informieren müssen. Heute ist der gebürtige Oberurseler 21 Jahre alt und steht vor dem Abschluss seiner Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement. In seiner Freizeit geht er schwimmen und fotografiert, letzteres möchte er zukünftig nebenberuflich machen. Seit 2013 kickt er im Friedrichsdorfer Stadtteil Köppern im Team United, das der ehemalige Bundesligaprofi Bruno Pasqualotto kurz zuvor unter dem Dach der Teutonia Köppern gegründet hatte. Eine Mannschaft, in der Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammenspielen. Tobias war von Beginn an Kapitän.

„Er setzt sich für die Leute ein, einfach ein großartiger Mensch“, ist Trainer Pasqualotto voll des Lobes über seinen Mannschaftsführer. „Vom Tobi habe ich noch nie etwas Negatives gehört. Einen besseren Kapitän gibt es nicht.“ Tobias‘ positive Ausstrahlung ist spürbar, in den Worten von Trainer und Mitspielern, aber auch, wenn er seinen Teamkameraden im Trainingsspiel motivierende Sätze zuruft oder nach Trainingsschluss einen lockeren Plausch mit den Jungs der Herrenmannschaft hält. Am heimischen Esstisch erzählt er: „Ich war schon immer selbstbewusst.“ Mit den Blicken, die er durch seine Körpergröße auf sich zieht, könne er deshalb gut umgehen. „Ich merke es manchmal, wenn die Leute hinter meinem Rücken tuscheln. Mir wäre es dann lieber, wenn sie mich einfach ansprechen.“

„Die Dinge selbst hinbekommen“

Im Mittelpunkt zu stehen, gesehen zu werden, damit hatte Tobias an sich nie ein Problem. Seit mehreren Generationen führt seine Familie die Oberurseler Gaststätte „Zum Schwanen“. „Als Kind haben mich meine Eltern im Restaurant auf die Theke gesetzt, da war ich immer mittendrin.“ In der Schule war er Klassensprecher. Trotz mancher Widrigkeiten, Tobias geht seinen Weg – und das voller Lebensfreude. Zu Zwillingsschwester Ann-Kathrin habe er mal gesagt, dass er aus Interesse für einen Tag mit ihr tauschen würde. Aber grundsätzlich wolle er weder größer noch ein anderer Mensch sein.

Die familiäre Unterstützung spielt für Tobias eine wichtige Rolle. Zu Ann-Kathrin, die ohne Beeinträchtigung geboren wurde, besteht ein enges Verhältnis. Auf zahlreichen Fotos in der Wohnung der Wentzells sind die Geschwister gemeinsam zu sehen. Mutter Christine habe dafür gesorgt, dass er seit zwei Jahren im eigenen, für seine Bedürfnisse umgebauten Ford zum Training nach Köppern fahren kann. Mit einem Ring am Lenkrad gibt er Gas, per Hebel betätigt er die Bremse. In Sachen Selbstständigkeit steht Tobias seinen Mitmenschen in kaum etwas nach. „Ich versuche, die Dinge immer erstmal selbst hinzubekommen.“ Zu Hause bedient er sich zweier Hilfsmittel, eines Hockers, um an hochliegende Gegenstände zu kommen, und einer Zange, um beispielsweise Klamotten aus dem Kleiderschrank greifen zu können. Einzig beim Einkaufen würden die 1,20 Meter manchmal etwas nerven.

Und dann ist da natürlich noch der Fußball, seit Kindestagen an Lebensinhalt und Leidenschaft in einem. „Den Fußball hat mir mein Papa in die Wiege gelegt“, erzählt Tobias. Stolz zeigt er den Video-Mitschnitt seiner Begegnung mit Torwart-Idol Oliver Kahn, den er als Achtjähriger auf dem Trainingsgelände des FC Bayern traf. Der Verein hatte Tobias und seine Familie damals zum Besuch an die Säbener Straße eingeladen. Auf ihn aufmerksam geworden war Tobias’ Lieblingsclub durch einen Medienaufruf seiner Eltern, die sich erhofften, weitere Menschen mit dem FHUF-Syndrom zu finden. Wie Kahn vor laufenden TV-Kameras seinen Respekt vor Tobias zum Ausdruck brachte und Franck Ribéry ihm über die Wange strich, wird der Oberurseler nie vergessen. Bis heute zeugt ein eigens gebastelter Wandkasten in seinem Zimmer, in dem ein unterschriebenes Trikot sowie Kahns Torwarthandschuhe Platz gefunden haben, von dem Erlebnis.

Selbst kicken wollte Tobias auch, nicht nur im Hof des elterlichen Restaurants, sondern vor allem im Verein. Anfangs habe er es in einer Regelmannschaft probiert, aber schnell gemerkt, „dass das nichts bringt.“ Zwar ist der Stürmer ein exzellenter Fußballer, als eigene Stärken bezeichnet er seine Übersicht sowie die Fähigkeit, „das Spiel zu lesen.“ Doch sein Handicap war zunächst ein unüberwindbarer Nachteil. Als er vor sieben Jahren über einen Schulfreund vom Team United erfuhr, sei er zunächst skeptisch gewesen, weil er fehlende Ligaspiele und Turniere vermutete. Auf einen Versuch ließ er es trotzdem ankommen. Tobias’ Mutter erinnert sich noch heute an sein breites Lächeln im Gesicht, als sie ihn vom ersten Training abholte. Seitdem kann er sich ein Leben ohne die Truppe, die inzwischen rund 50 Spieler umfasst, nicht mehr vorstellen.

Das große Ziel heißt „Weltmeister“

Gleichzeitig hat sich Tobias den Status der Unverzichtbarkeit längst selbst erarbeitet. Er trägt die begehrte Rückennummer 10, an ein Team United ohne den Sympathieträger will Mitspieler Burkan gar nicht denken: „Er ist einer wie Messi, immer anspielbar. Wenn’s mal schlecht läuft, muntert er uns auf und motiviert uns.“ An zwei Erfolge mit der Mannschaft denkt Tobias besonders gern zurück: den Gewinn der Hallenmeisterschaft sowie den Triumph in der inklusiven Hessenliga-ID. Inzwischen hat er sich ein neues Ziel gesetzt: Nicht weniger als Weltmeister möchte er werden. Für das Team Germany, quasi die Nationalmannschaft der Kleinwüchsigen, hat er bereits zwei Länderspiele absolviert. Eine beachtliche Quote, bedenkt man, dass pro Jahr üblicherweise nicht mehr als ein Spiel ausgetragen wird. In zwei Jahren finden in Köln die World Dwarf Games statt, die Weltspiele für kleinwüchsige Menschen. 2017 verpasste Tobias die Teilnahme in Kanada durch unglückliche Umstände, das Heimturnier ist nun das große Ziel: „2022 will ich die beste Form meines Lebens haben.“

Der Traum vom Titel treibt ihn an. Erst kürzlich habe er sich die filmische Dokumentation des WM-Triumphs der DFB-Herren von 2014 angesehen, der Moment, wie Philipp Lahm den goldenen Pokal in den Abendhimmel von Rio streckt, den Gedanken ausgelöst: Das will ich auch. Doch steht hinter Tobias’ Lebenswünschen immer auch ein kleines Fragezeichen. „Die Ärzte sagen, dass es sein kann, dass ich irgendwann in den Rollstuhl muss.“ Die Hüfte leidet. Das FHUF-Syndrom ist kaum erforscht, sodass es keine effektiven Behandlungsmöglichkeiten gibt. „Wenn es so kommt, dann kommt es so, ich habe keine Angst davor“, sagt Tobias. Hinsichtlich der Heim-WM 2022 gibt er sich aber kompromisslos: „Was danach ist, wird man sehen. Aber das möchte ich unbedingt noch schaffen!“

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