Auch „Dege“ hat am 1. Mai den „Stich“ umfahren

Tradition verpflichtet: Am 1. Mai zieht es leidenschaftliche Radsportler wie Dirk Heinrich auf die Straße. Allein auf weiter Flur ist er da am Startpunkt in Eschborn. Was soll‘s, gut gelaunt macht sich der 50-Jährige auf den Solo-Trip durch den Taunus. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Main-Taunus. Erster Mai ohne Radfahren? Geht gar nicht, das Rad gehört zum „Tag der Arbeit“ wie das Schokoladenei zum Ostersonntag.
Feiertage haben ihre Rituale. Am 1. Mai wird geradelt. Da sind viele Straßen im Umkreis von rund 50 Kilometern rund um den Henninger-Turm in Frankfurt für den motorisierten Verkehr gesperrt, Polizisten und Verkehrswacht haben wichtige Jobs am Straßenrand. Nur Hobby-radler werden generös durchgewunken, wenn gerade keiner schneller als die Polizei sonst erlaubt durch die Straßen brettert, mit Startnummer auf der Brust und tiefergelegtem Kopf, in dem sich die Gedanken um die nächste Sprint- oder Bergwertung drehen. Die „Orscheler“ sind vertraut mit dem Gedöns rund um die Radler mit den sirrenden Ketten. Weil das Peloton hier schon immer durchgekommen ist, seit es den 1. Mai, also den Maifeiertag des Radfahrens, gibt. Schon vor Eddy Merckx, dem legendären Belgier, der 1971 bei seiner Siegesfahrt Richtung Frankfurter Bierturm die Hauptstraße durch den Ort Richtung Feldberg hochgeprescht ist, wie es Hobbyradler jener Zeit nicht einmal bergab geschafft haben. Ohne Helm waren die Jungs damals noch unterwegs, oh ja.
1. Mai 2020, Sonnenflecken sprenkeln den feuchten Oberurseler Asphalt am Morgen. Kein Fahrradfahrer nirgends, keine Straßensperren, keine Polizei, keine wichtigen Helfer, kein Hubschrauber am Himmel als Vorbote des kurzen Glücks der Radsportfreunde. Nur Stille und Leere. Das gab’s nur einmal vor fünf Jahren, Terroralarm bremste das Radvergnügen. Aber Tradition verpflichtet. Einer muss es ja tun, wenn die es nicht tun dürfen, die es unbedingt wollten. Tausende wollten, sitzen jetzt im Wohnzimmer auf ihrem festgeschraubten Rad. Fahren virtuell ihre Tour durch den Taunus und gucken nebenbei das Rennen vom Vorjahr auf der Mattscheibe. Und die Stars der Szene erzählen abwechselnd Geschichten aus dem Radfahrerleben vor, während und hoffentlich nach der Corona-Zeit. Aber einer muss es ja wirklich tun, einfach losfahren. In echt, draußen im Regen, durch Wind und Wetter, Sonnenschein und leere Straßen. Auf der Suche nach dem 1. Mai in einer ordnungsgemäß geregelten Radfahrerwelt.

Dirk Heinrich ist am Start

Über der Skyline von Frankfurt dräuen dunkle Wolken. Schön zu sehen von der freien Passage am Feldrand zwischen Steinbach und Eschborn, wo das Rad wunderbar geschmeidig rollt. Weil in Eschborn der Finanzplatz ist und das Geld sprudelt, wird dort auch seit ein paar Jahren mit großem Drumherum gestartet, alles XXXL. Rund um die Deutsche Börse gespenstische Ruhe zwischen den riesigen Glaspalästen, ein öder Ort mit ambulanten Futterstellen am Rand geschotterter Parkplätze, ein Lichtblick im Grau nur Haus „M55“ mit dem 40 Meter hohen bunten Fassadenbild eines Streetart-Künstlers. Kein Streckenfest nirgends, nicht am Rathausplatz wie üblich, keine Startparty im Camp-Phönix-Park, wo Profis und Amateure sonst im Gleichtakt mit ihren Klackerschuhen klappern und sich auf den Start vorbereiten.
Aber Dirk Heinrich ist da. Mit Rennrad, im hautengen Dress, korrekt mit Helm, Brille und Handschuhen. Und guter Laune. Die große Runde wird er fahren, über Oberursel und über den Feldberg, den Ruppertshainer Berg hoch, die „Mammolshainer Hölle“ natürlich, das volle Programm. Dirk Heinrich, drahtiger 1969er-Jahrgang, allein vor dem Startbogen mit den Werbefahnen drumrum und dem Mutmacher-Spruch „Radklassiker bleibt stabil“, mit weißer Farbe auf den Boden gepinselt. Im Hintergrund ein paar Fotografen, die drauf warten, dass John Degenkolb für ein inszeniertes Startfoto vorbeikommt. Die Sonne blitzt wieder mal durch die Wolken, Dirk Heinrich muss los, 11 Uhr, es wird Zeit.

„1. Mai – da muss man aufs Rad“

Eine Stunde später, das Arboretum und Schwalbach sind links aus dem Blickfeld entschwunden. Glocken läuten von irgendwoher, 12 Uhr mittags. Der Freizeitradler, der am liebsten an Flussufern entlangsegelt, spürt erste Müdigkeit in den Beinen. „High Noon“ und ausgerechnet jetzt wartet Mammolshain. Vom Kronthal ganz unten beim Gestüt Linsenhoff bis hinauf bis zum Kreisel nach Königstein. Sie nennen es nicht umsonst die „Hölle“. Am Scheidepunkt steht meist der Teufel mit dem Dreizack, um sie alle zu triezen. Ein guter Platz für den teuflischen Antreiber, hier hört man das Schnaufen der Akteure, die sich hautnah an den Zuschauern vorbei durch ein enges Spalier kämpfen müssen. Hier fliegen die Schweißtropfen der Helden des Asphalts auf den Straßenbelag, bis zu 23 Prozent Steigung müssen auf dem „Mammolshainer Stich“ bewältigt werden. Die Bilder aus dem kleinen Ort mit dem besonderen Flair, dem „Alpe d’Huez des Taunus“, wie es in der Szene der Radsportfreaks heißt, flimmern in unzähligen Ländern über die TV-Bildschirme.
Nicht heute, an diesem zwangsläufig antiseptischen 1. Mai 2020. Alles nur ein Traum. Echt das eigene Schnaufen, trotz Schieben auf dem kurzen Stich, der dann doch eine Nummer zu groß ist. Wenig später gesteht John Degenkolb, einer der absoluten Cracks mit potenzieller Gewinnchance im richtigen Radleben, vor laufender TV-Kamera auf dem Gipfel der Hölle, dass er auch außenrum gefahren ist. Kurzer Einspieler in der Vier-Stunden-Sendung des HR vom Rennen, das kein Rennen ist. Natürlich hat „Dege“ eine Hauptrolle bei den Live-Einblendungen. Verdient hätten dies auch die vielen Einzelkämpfer, die sich hier heute mit Muskelkraft hochschaffen, und natürlich der Mammolshainer Männerclub Ü40, der sich – Tradition verpflichtet – am „Tag der Arbeit“ an die Arbeit gemacht hat. Nur zwei von zehn steigen unterwegs auf dem „Stich“ ab. „1. Mai halt, da muss man aufs Rad“, sagt einer mit Achselzucken.
„Dege“ nennen auch die Oberurseler den neuen Nachbarn im Stadtteil Bommersheim, den Top-Radfahrer John Degenkolb. Einer von zwei „Orschelern“, die es an diesem Tag trotz der ungünstigen Umstände ins Fernsehen schaffen. „Dege“ sozusagen qua Amt und aufgrund der Werbepflichten, und Nils Britze, der um kurz vor 14 Uhr auf dem Marktplatz vorbeikommt. Am Höhepunkt des Rennens aus Sicht der örtlichen Radsportfans. Ungefähr 33 Sekunden dauert es meistens, dann ist das gesamte Profifeld von der Stadtbücherei (ganz unten) bis zum Historischen Rathaus (ganz oben) nach flottem Durchrauschen wieder verschwunden. Ein lokaler „Hotspot“, Sponsoren tragen die Kosten für den Sekundenauftritt mit Sprintwertung auf dem Kopfsteinpflaster. Ein schöner Werbeeffekt, dachte sich die Stadtpolitik, als sie ins Team Taunus einstieg, auf dass Oberursel gut vermarktet werde über das Großereignis. Heute kein Sprint, aber Nils Britze, der flott mit seinem Lastenrad, beladen mit reichlich Bier aus dem Alt-Oberurseler Brauhaus, den Marktplatz hinaufradelt. Zufällig ist auch Markus Philipp vom HR mit Kamerateam da, „Orschel“ bekommt wie immer Sendezeit, und der Lastenmann kann live und ohne Schnaufen erklären, wie in Corona-Zeiten das Online-Portal „wer liefert?“ im Städtchen funktioniert. Und wir können beruhigt die letzten Meter ausrollen.



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